Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Immer länger, höher, weiter, sonderbarer

Die meisten kennen die dunkle Biersorte "Guinness" und fast jedes Kind weiß wohl, was es mit dem "Guinness-Buch der Rekorde" auf sich hat. Aber die wenigsten wissen, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.

Von Jürgen Bräunlein | 27.08.2005
    Erfolgreiche Businessleute, so scheint es, können selbst in der Freizeit nicht von ihrer Arbeit lassen. Sir Hugh Beaver, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Geschäftsführer der Guinnessbrauerei in Irland, war so einer.

    Als er 1951 mit Freunden in der irischen Grafschaft Wexword auf Vogeljagd ging, landete der 61-Jährige einen Flop, der ihn noch Jahre später wurmte. Ein Goldregenpfeifer, den er schon zielsicher vor seiner Flinte hatte, entwischte ihm im letzten Moment, und er brütete darüber, ob das Federvieh nicht ein besonders schnelles seiner Art sei. Leider hatte Sir Hugh Beaver wenig Fortune bei seiner Recherche. Weder in Gesprächen mit Freunden noch beim Nachschlagen in seiner gut sortierten Bibliothek konnte er klären, ob der Regenpfeifer mit einer Fluggeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern zu den schnellsten Vögeln gehörte.

    Die Wissenslücke ärgerte ihn, und so kam er auf die Idee, eine Sammlung mit Rekorden und Spitzenleistungen zusammenzustellen. Denn so etwas gab es bisher noch nicht. Sir Hugh Beaver, Geschäftsmann durch und durch, hatte dabei noch einen Hintergedanken. Ein Buch der Superlative könnte auch den Umsatz des Guinness-Bieres ankurbeln. Denn in den Pubs Großbritanniens und Irlands gehören Bierdurst und Stammtischwetten um Rekorde traditionell zusammen. So beauftragte Beaver die Londoner Rechercheagentur der Zwillinge Norris und Ross McWhirter, Material für ein solches Nachschlagewerk zu sammeln. Die McWhirter-Brüder, beide begabte Journalisten, leidenschaftliche Faktenhuber und später dann erzkonservative Abgeordnete, fanden so zu ihrer Berufung.

    Rastlos suchten sie nach rekordträchtigen Fakten und Begebenheiten aus allen Bereichen des Lebens. Das Land mit den meisten Einwohnern, die Stadt mit der höchsten Mordrate, das größte Bürogebäude, die teuerste Flasche Wein, aber auch Merkwürdigkeiten wie das höchste Kartenhaus der Welt, die längste Zeit, die jemand im Stehen verbrachte oder die Frau mit den meisten Scheidungen.

    Am 27. August 1955 erschien das ungewöhnliche Werk unter dem Titel "Guinness Book of Records", das Guinness-Buch der Rekorde. Das erste Exemplar hatte 198 Seiten und wurde überall dort verkauft, wo Guinness-Bier ausgeschenkt wurde: also in den damals 81.400 Pubs in Irland und Großbritannien. Erst danach kam das Werk in den regulären Buchhandel. Auch hier war der Erfolg überwältigend.

    Bald schon erschienen Ausgaben in Amerika und Frankreich, 1963 folgte die deutsche, ebenfalls ein Verkaufsschlager. Zu diesem Zeitpunkt waren auch die McWhirter Brüder schon kleine Berühmtheiten: "Die Chefbuchhalter des Skurrilen". Noch bis in die 70er Jahre hinein betreuten sie die Originalausgabe des Guinness-Buches. Ständig kamen neue Rekorde hinzu. Denn jeder kann selbst eigene Spitzenleistungen kreieren, aufstellen und so auf einen Eintrag ins Buch hoffen. "Da entdeckt jemand, der sonst ein Nobody wäre, dass er am schnellsten Kartoffeln schälen kann." , lästern Spötter.

    Heute erscheint das Guinness-Buch der Rekorde in 40 Ländern und 37 Sprachen. Mit über 100 Millionen verkauften Exemplaren ist es nach der Bibel das meist verkaufte Buch der Welt. Die Rekorde werden extremer: Immer länger, immer höher, immer weiter, und immer sonderbarer. Und auch das Fernsehen macht mit. Hier werden nicht nur die erotischsten Frauen und die besten Deutschen gesucht und gefunden, sondern ebenso die klügsten Priester oder die dümmsten Autofahrer. Superlative machen offenbar süchtig. Die Literaturwissenschaftlerin Hannelore Schlaffer monierte kürzlich schon genervt: "Die ganze Welt ist zum Guinness-Buch der Rekorde geworden. In der Fun-Gesellschaft gibt der Superlativ dem Zählen eine geradezu religiöse Erhabenheit."

    Da tröstet es doch, dass mancher Rekord auch 50 Jahre nach Erscheinen des ersten Guinness-Buches noch immer ungebrochen ist. So ist der 1940 verstorbene Amerikaner Robert Wadlow mit zwei Metern und 72 Zentimetern bis heute der längste Mensch der Welt geblieben.