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In 80 Tagen über den Balkan

Quer durch die Balkanländer ging die Zugfahrt des Stuttgarter Staatstheaters, des Türkischen Staatstheaters und anderer europäischer Ensembles. Gemeinsam reisten und spielten sie: Straßentheater. Nun ist das Projekt Orient-Express im Stuttgarter Hafen angekommen.

Von Christian Gampert | 11.07.2009
    Auf bereits fahrende Züge aufzuspringen kann manchmal eine gute Sache sein. Das Stuttgarter Staatstheater wollte sich näher mit Osteuropa beschäftigen, das Türkische Staatstheater in Ankara hingegen besaß einen Eisenbahnwaggon, auf dem man in entfernten Provinzen vor allem für Kinder Theater spielte.

    Man tat sich zusammen und reiste auf Schienen quer durch den Balkan. Die in Rumänien, Serbien, Kroatien und Slowenien zugeladenen einheimischen Ensembles vervollständigten das Repertoire mit jeweils eigenen Stücken; und wer die jetzt an der Endstation, im Stuttgarter Hafen, angekommene Reisegesellschaft so beobachtet, der muss, trotz allen logistischen Stresses, von basisorientierten europäischen Kommunikationsprozessen ausgehen.

    Der Cheforganisator des ganzen Unternehmens, der Stuttgarter Dramaturg Christian Holtzhauer, hat jedenfalls gewisse Energieschübe im eigenen Ensemble festgestellt:

    "Das hat die wahnsinnig inspiriert und beflügelt. Also die sind zurückgekommen mit einem Teamgeist und einer Spielfreude - das haben wir ganz selten erlebt bisher."

    Dass Staatstheater-Schauspieler auf einmal Straßentheater machen, kommt nicht täglich vor. Bei der Premiere von "80 Tage, 80 Nächte" im Stuttgarter Hafen, vor Hebekränen und Lagerhäusern, merkte man noch sehr genau, dass das Stück bislang im Lärm osteuropäischer Bahnhöfe aufgeführt wurde - so körperlich, lautstark, nach außen gerichtet ist die Spielweise.

    Der immer noch unter dem Pseudonym Soeren Voima firmierende Regisseur Christian Tschirner hat ein Stück über einen in Rumänien hergestellten Teddybären geschrieben, dem die Einreise nach Deutschland verweigert wird - weil das Kuscheltier illegal produziert wurde und trotzdem ein Markenlabel hat. Produktpiraterie nennt man so etwas.

    Aber der illegale Teddy bekommt eine zweite Chance: Eine gute Fee von der Müllabfuhr holt ihn aus der deutschen Abfalltonne und transferiert ihn zurück in die Türkei, von wo eine Reise quer durch den Balkan beginnt - und durch die unterschiedlichsten politischen und kulturellen Konflikte.

    Das Ganze ist zirkusartig und unterhaltsam aufgezogen, mit viel Musik, Bauchtanz und Typenkarikatur; Jahrmarkttheater zwischen Sozialmärchen, Kabarett und didaktischer Brecht-Attitüde. Zwei Puppenspieler führen den Teddybären und seinen Freund, den kleinen Tiger; und fünf Stuttgarter Schauspieler schmeißen sich mit Begeisterung in alle möglichen Sozialklischees. Man streift den Kosovokrieg und den Drogenschmuggel, das Problem der Scheinehe und das KFOR-Kontingent. 80 Tage, frei nach Jules Verne, hat der Teddy Zeit, jemanden zu finden, der ihn liebt. Dass das dann ausgerechnet die Näherin ist, die ihn in Rumänien zusammennähte und die inzwischen in Zürich als Putzfrau arbeitet, scheint gar nicht so unrealistisch.

    Jeden Abend fährt nun also beim Stuttgarter Festival der Orient-Express ein, die Längsseite eines Waggons klappt herunter auf den Bahnsteig, und dort wird dann Theater gespielt. Das "Theater der Jugend" aus Zagreb bot eine schwarze Satire über egomane Mittdreißiger, die sich zwischen Affären und Kinderkriegen, knallharter kapitalistischer Karriere und eher traditionellen Wertvorstellungen nicht entscheiden können. Dabei erfuhr man auch etwas über den weiten Abstand zwischen uns und Osteuropa: Die Übersetzungsübertitel konnten den Wortwitz des Stücks nicht annähernd einfangen, über den die Stuttgarter Kroaten so ausgiebig lachten. Und die melancholisch-historischen Erinnerungen, die das Türkische Staatstheater Ankara aus einer ganzen Wand von Reisekoffern holte, wurden von Schauspielern dargeboten, die sich mehr als Rhapsoden verstehen denn als Personenerkunder. Das markiert eine kulturelle Differenz, die man wahrnehmen sollte - auch wenn dann gleich eine rumänische Blaskapelle mit dem schönen Namen "Fanfara Kalashnikov" auftritt und alle politischen Divergenzen mit ultrascharfen Jazz-Polkas beiseitepustet.