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In Amerika

Wind frischt auf. Konstellationen pulsieren. Die Erde dreht sich. Menschen vermehren sich. (Bald werden mehr auf der Erde gehen als darunter liegen!) Geschichte verdichtet sich. Dunkle Menschen stöhnen. Blasse Menschen (Gottes Lieblinge) träumen von Eroberung, Flucht. Deltas, weite Mündungen von Menschen. Er kippt sie nach Westen, wo mehr Raum darauf wartet, gefüllt zu werden. Es ist elf Uhr vormittags, europäische Zeit. Angetan weder mit Königsgewand noch Bauerntracht, sonst häufig Seine Vorliebe, ist Er heute Gott der Bürovorsteher, Sein Kostüm ein dreiteiliger Kammgarnanzug, gestärktes weißes Hemd, Manschettenschoner, Fliege, und - auch Gott möchte modern sein - Er kaut Tabak. (...) Gott der Reiseveranstalter hat Boten nach überallhin entsandt, sie sollen verkünden, daß eine Neue Welt winkt, wo die Armen reich werden können und wo jeder gleich vor dem Gesetz ist, wo die Straßen mit Gold gepflastert sind (dies für die analphabetischen Bauern) und wo Land verschenkt (dito) oder für einen Apfel und ein Ei verschleudert wird (dies für die Lesekundigen). Dörfer beginnen sich zu leeren, die Mutigsten oder Verzweifeltsten gehen als erste. Horden Landloser strömen zum Wasser (Bremerhaven, Hamburg, Antwerpen, Le Havre, Southampton, Liverpool), lassen sich in die Bäuche stinkender Schiffe stopfen.

Florian Felix Weyh | 24.02.2002
    Schicksale, tausendmal erzählt: Der Menschenstrom aus der Alten in die Neue Welt, getrieben von Armut und Verzweiflung, von politischer Unterdrückung und sozialer Chancenlosigkeit. Am anderen Ende des atlantischen Ozeans wartet die Erfüllung: Freiheit, Aufstiegsmöglichkeiten, Reichtum. Wer in Irland, Italien oder Polen dem Dritten Stand angehört, läßt sich lieber in stickige Schlafsäle eines Auswandererdampfers stopfen, als weiter in europäischen Abhängigkeitsverhältnissen dahin zu vegetieren. Doch das Schiff beherbergt unterschiedliche Welten. In der einen herrscht Armutsprostitution zugunsten der Herren aus der Ersten Klasse, in der anderen werden geschliffene Dialoge geschwungen. So feinsinnig, sensibel und idosynkratisch, daß die Auswanderermotive dieser kleinen Personengruppe rätselhaft erscheinen müssen. Ihre Mitglieder sind gut gekleidet und hoch gebildet. Schwielen lassen sich an ihren Händen so wenig entdecken wie ein Bezug zur Arbeitswelt an ihren Problemen.

    "Natürlich bin ich nicht fanatisch", sagte sie, "aber vielleicht doch zu heikel. Beispielsweise denke ich unwillkürlich, daß es einem Menschen, der auf absurde Weise niest, auch an Selbstachtung mangelt. Warum sonst gibt man sich zu etwas so Unschönem her? Es sollte eine Sache der Konzentration und der Entschlossenheit sein, anmutig, ehrlich zu niesen. Wie ein Händedruck. Ich erinnere mich an eine Unterhaltung mit jemandem, den ich seit vielen Jahren kenne, ein feiner Mann, ein Arzt, dessen Freundschaft mir viel bedeutet; mitten im Satz, wir sprachen über Fouriers Theorie der zwölf radikalen Leidenschaften, wurde er offenbar jäh von einer Gefühlsregung überwältigt. Er brachte einen schrillen Laut hervor und sagte dann ‚Kischh' - sagte es zweimal und schloß dabei die Augen. Was hat er nur gesagt, fragte ich mich und starrte ihm in sein fleckiges Gesicht. Als ich sah, wie er nach seinem Taschentuch kramte, begriff ich. Doch es war schwierig, danach noch weiter über ‚voller Harmonie' und ‚Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit' zu sprechen!"

    Es ist eine Gesellschaft, wie sie - zwei Dekaden später als in diesem Jahre 1875 - ein junger Arzt namens Anton Tchechow in seinen Erzählungen aufs Korn nehmen wird: Menschen, die dem Theater größere Bedeutung zumessen als dem sie umgebenden Leben; auch in Tschechows Stücken darf die Figur des Schauspielers nie fehlen. Er - oder idealtypischerweise sie, die Schauspielerin - beschäftigt sich mit der Pflege des eigenen sinnlichen Kapitals, das in den Niederungen des Alltags ruiniert zu werden droht. Empfindsamkeit heißt das Schlagwort; Empfindsamkeit verträgt sich nicht mit brachialer Arbeit. Wie Figuren aus Tschechows "Möwe" kommen einem die polnischen Auswanderer vor, die Susan Sontag in ihrem voluminösen Roman "In Amerika" 1875 ihr Heimatland verlassen läßt. Polen gibt es zu diesem Zeitpunkt seit beinahe hundert Jahren nicht mehr. Der letzte polnische König Stanislaus August Poniatowski hatte Ende des 18. Jahrhunderts seinen Thron an eine unheilige Allianz aus Preußen, Österreich und Rußland verloren, und an die Stelle des Nationalstaates trat das Nationaltheater als verbindendes Moment. Genau hier, auf den Brettern der Warschauer Bühne, spielt die Romanheldin Helena Modrzejewska in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine herausragende Rolle. Ihre Zeitgenossen vergleichen sie mit Sarah Bernard in Paris. Die Modrzejewska - im Roman genannt Maryna - ist Überzeugungstäterin. Schon als Jugendliche läßt sie sich mit einem älteren Mann ein, um über ihn zum Theater zu gelangen. Von ganz unten, einer provinziellen Wanderschmiere, arbeitet sie sich bis zur Metropole hoch. Mit Anfang dreißig ist sie ein Star. Unkündbar obendrein - doch von einer spezifischen Lebenskrise bedroht, die auf Mißbrauch von fremden Worten beruht.

    Sie war gern Schauspielerin (...), weil das Theater ihr als nichts weniger als die Wahrheit erschien. Eine höhere Wahrheit. Wenn man in einem Stück, einem der großen Stücke spielte, wurde man besser, als man war. Man sagte nur Wörter, die ausgeformt waren, notwendig, erhebend.

    Genau dieses Erhebende und Erhabene verpufft unweigerlich mit jedem Schlußapplaus. Danach schrumpft die Schauspielerin auf normale Lebensgröße, ein Mensch mit Zweifeln und Fehlern und dem Drang nach handfestem Leben. Die polnische Gesellschaft um sie herum rezipiert zu diesem Zeitpunkt romantisch-utopische Schriften des frühen 19. Jahrhunderts; der Franzose Charles Fourier beeindruckt Maryna und ihren Freundeskreis dabei am nachhaltigsten. Der Vor-Marxist (Marx und Engels zitieren ihn in ihren Schriften) phantasmagorierte mit Kolonien namens "Phalanstéres" eine Mischung aus urchristlicher Gemeinde, Kommune und Kibbuz. In der Theorie auf mindestens 1.500 Mitgliedern aufgebaut, um überhaupt eine Wirkung auf die Gesellschaft zu nehmen, beschränkten sich die später in Amerika gegründeten Phalanstéres auf 10 bis 50 Personen. Auch Maryna vermag weniger als ein Dutzend Gleichgesinnter um sich zu scharen, als sie 1875 den Aufbruch aus Polen beschließt: Ihren Mann Bogdan Dembrowski, ihren Sohn Pjotr, einen Maler, ein Lehrerehepaar und den Journalisten Ryszard. Später wird er weltberühmt werden - weitaus berühmter als die Schauspielerin selbst, denn 1905 erhält er den Literaturnobelpreis (es handelt sich um Henryk Sienkiewicz, den Verfasser des Historienschinkens "Quo vadis?"). Noch aber zählt er zu jenen, die der - von Eitelkeit nicht freien - Verzichts- und Armutsgeste Marynas nacheifern wollen. Schluß mit Ruhm, öffentlicher Anerkennung und dem luxurierenden Dasein in der polnischen Oberschicht; Bogdan trägt einen Grafentitel. Von nun an soll das Leben der Heroine dem gesunden bäuerlichen Rhythmus folgen, zumal eine längere Krankheit ihr den Abschied vom Theater erleichtert. Aussteigergeschichten dieser Art, ob sie im 19. oder 20. Jahrhundert spielen, weisen meist die gleiche Pointe auf:

    Das Landleben richtete die Frauen auf neue Fügsamkeiten aus, diktierte allen neue Programme der Unzulänglichkeit. Und da sie wußten, wie ihre Nachbarn sie sahen, nämlich als verhätschelte, ungeschickte feine Leute, wagten sie es kaum, sie um Hilfe zu bitten. Herr Kohler hatte einen seiner jungen mexikanischen Landarbeiter vorbeigeschickt, um ihnen zu zeigen, wie man den Weingarten besorgte, dessen Kreislauf nun wieder begann. Die Männer sahen finster zu, wie er ihnen demonstrierte, wie man die langen Triebe zurückschnitt, den Dünger verteilte, Erde um die Reben herum aufhäufelte. Und es war auch nett von Kohler, der ihnen Milch, Sahne und Butter verkaufte, Pancho zu bitten, ihnen auch noch Melkunterricht zu geben; doch keine der Frauen hatte Hände, die kräftig genug dafür waren, oder die richtige Technik; sie hatten eher das Gefühl, die Kühe zu quälen. Nach einigen Tagen kauften sie ihre Milch dann bei einer anderen Farm in der Nähe.

    Natürlich scheitern Maryna und ihr polnisches Gefolge, bevor die Weingärten nahe der Metropole San Franzisko überhaupt einen Ertrag abwerfen. In der Gruppe gibt es nicht einen, der nennenswerte landwirtschaftliche Kenntnisse mitbrächte, auch wenn Bogdan kiloweise Bücher über Ackerbau und Viehzucht liest. Der Sprung von der Theorie zur Praxis mißlingt, auch die soziale und sexuelle Utopie der Kommune zerbricht rasch an den Gegebenheiten. Erstens ist die Umgebung streng puritanisch, zweitens lösen sich die importierten Ehe- und Beziehungsprobleme auch unter dem blauen Himmel Kaliforniens nicht in Wohlgefallen auf. Nur Maryna schafft, was ihr schon in der Heimat glückte: Eine Ehe mit dem gelassenen Bogdan zu führen und dabei gleichzeitig den feurigen Ryszard zu lieben. Den Grund für Bogdans Gelassenheit ahnt sie freilich nicht. Könnte sie in seinen Tagebüchern blättern, erführe sie, daß sie im Leben dieses polnischen Grafen keine Hauptrolle spielt.

    Ich hätte nie erwartet, daß Kalifornien ein neuer Schauplatz von Versuchungen sein würde. Ja, ich glaubte sogar, ich hätte diese heimlichen Gelüste in unserem unglückseligen Land zurückgelassen. Statt dessen kommt es mir so vor, als wäre meine Schwäche mir vorausgeeilt (...) warteten diese Fleisch gewordenen Phantome des bedrohlichen Verlangens schon auf mich. Und mit ihnen eine ruhige, feste Stimme, die, wie niemals in Polen, sagt: Warum nicht? Du bist im Ausland, niemand weiß, wer du wirklich bist.

    Jeder hat seine eigenen Gründe, die Heimat zu verlassen, und Bogdans in Polen kaum tolerierte Homosexualität ist ein derart starkes Fluchtmotiv, daß es ihn sogar gleichgültig gegenüber seinen immensen wirtschaftlichen Verlusten macht. Während das väterliche Erbe dahinschwindet, analysiert er die Gründe des raschen Niedergangs durchaus hellsichtig:

    Die Leute, die Anaheim besiedelt haben, kamen hierher, um besser zu leben als in San Francisco. Daß wir uns hier niedergelassen haben, ist reiner Zufall, und wir leben schlechter als in Polen. Wenn unsere Gemeinschaft scheitert, dann nicht wegen der Undurchführbarkeit all der utopischen Pläne, sondern weil wir zu viele erfreuliche Dinge aufgegeben haben. Wir wollten ein Leben schaffen, keinen Lebensunterhalt; Geld verdienen war nie unser Hauptantrieb und konnte es auch nie sein. Es quält einen zu wissen, daß unsere Nachbarn, wenn wir aufgeben, sagen werden, wir hätten nicht hart genug gearbeitet.

    Vordergründig aus Geldnöten, in Wahrheit aber aus innerer Unruhe kehrt Maryna zum Theater zurück - allerdings zum unvertraut kommerziellen amerikanischen Tourneesystem. Ihr Englisch ist hart und holpernd, doch mit eiserner Disziplin erarbeitet sie sich eine verständliche Aussprache. Ein Faktotum namens Miss Collingridge begleitet sie durch die Proben und korrigiert jede Andeutung eines slavischen Akzents. Unversehens erweist sich die Utopie der Abkehr vom Theater als Sprungbrett zur wahren Theaterkarriere.

    Jedes der drei Stücke, die Maryna während dieser Woche spielte, verlangte von ihr, ihren Tod zu simulieren - als Adrienne starb sie in einem fürchterlichen Delirium, als Julia in einer sinnlichen Ohnmacht, wobei sie über den Leichnam ihres Romeo fiel, als Marguerite Gautier in einem krampfartigen Protest gegen die Ungerechtigkeit des Todes -, wobei man allgemein darin übereinstimmte, daß sie am triumphalsten in der Kameliendame starb; bei einer Aufführung dieses Stücks waren, wie die führende Zeitung der Stadt, The Territorial Enterprise, berichtete, zwei Personen im Publikum, die an verschiedenen Stellen des Theaters mit den tausend Plätzen saßen, so gelähmt vor Entsetzen über den Anblick Marguerites, wie sie von der Couch sprang und mit einem furchtbaren Getöse tot zu Boden fiel, daß beide von einer lähmenden Starre befallen wurden und sich erst eine volle Stunde nach Ende der Vorstellung wieder von ihren Sitzen erheben konnten.

    Das große Glück der Schauspieler im 19. Jahrhundert bestand darin, daß es außer der jungfräulichen Fotografie kein technisches Medium gab, das uns ihre Auftritte überliefert hätte. Die großen Namen dieser Epoche müssen sich keinem Vergleich mit späteren Kollegen stellen; eine Konfrontation, die sie vermutlich verlören. Schon die verfilmte Faust-Inszenierung mit Gustav Gründgens wirkt nach fünfzig Jahren unendlich manieriert, dröhnend und verstaubt. Nichts ändert sich schneller im Theater als die Maßstäbe, die vom zeitgenössischen Publikum an die Schauspieler herangetragen werden. Man kann das sogar bis ins Fernsehen hineinverfolgen, wo amateurhafte Daily-Soap-Serien einen kaum zu unterbietenden Standard gesetzt haben, der gleichwohl aufs Theater zurückschlägt. Schauspielerei ist angewandter Opportunismus, nur hilflos maskiert von unablässigem Kantinengequatsche auf pseudointellektuellem Niveau:

    Autorität auf der Bühne ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit, das Wesen einer Figur anhaltend, flüssig, durchdringend zu projizieren. In der Natur gibt es viele gestaltlose Augenblicke, viele unwesentliche Gesten; im Theater enthüllen die Figuren ihr Wesen unablässig. (...) Eine Rolle spielen bedeutet, an einer Person das zu zeigen, was emphatisch, was dauerhaft ist. Wesentliche Gesten sind Gesten, die wiederholt werden. Wenn ich böse bin, bin ich ständig böse. Seht, wie heimtückisch, wie finster ich schaue. Ich blecke die Zähne (wenn ich ein Mann bin). Beim Gedanken an das Leid, das ich gleich meinen leichtgläubigen Opfern zufüge, erbebe ich sichtbar. Oder ich bin gut (wie Frauen gut sind). Seht, ich lächle, ich blicke zärtlich, ich beuge mich vor, um Beistand zu leisten, oder weiche kläglich zurück, vor dem brutalen Vorgehen dessen, gegen den mich zu verteidigen ich machtlos bin.

    Vor zwei, drei Autorengenerationen galt es noch als Kür, einen großen Künstlerroman vorzulegen. Der Künstler als kritischer Spiegel eingefahrener bürgerlicher Verhaltensweisen - im Zeitalter der totalen Individualisierung ist das kein erzählbares literarisches Modell mehr. Soziologisch gesehen, verhalten wir uns alle längst wie die verrufensten Bohemiens des 19. Jahrhunderts. Susan Sontag, die amerikanische Vorzeigeintellektuelle, die nach dem 11. September den Unmut ihrer eigenen Landsleute auf sich zog, weil sie Präsident Bush attackierte, vermag auf 500 Seiten nicht deutlich zu machen, was sie an diesem zeitgeschichtlichen Stoff interessiert. "In Amerika" zeichnet ein träges und vollkommen reibungsloses Bild vom Schmelztiegel USA im 19. Jahrhundert. Das utopische Moment der Koloniegründung bleibt Episode, und ihren Figuren nähert sich die Autorin ohne große Empathie, ja fast möchte man sagen mit ausgesprochener Lustlosigkeit. Wenn überhaupt, interessiert sie die Möglichkeit, ihnen Nachdenklichkeiten in den Mund zu legen, die man andernorts schon besser formuliert gelesen hat, auch im Werke Susan Sontags. Etwa im Falle des - damals brandneuen - Telefons:

    Und was für ein Segen für die Menschheit das sein wird, wenn mit Hilfe dieses Gerätes jeder eine italienische Oper, ein Stück von Shakespeare, eine Debatte im Kongreß, eine Predigt von seinem Lieblingspfarrer haben kann, alles verlegt wie Gas im eigenen Haus. Die Möglichkeiten für die Belehrung der Öffentlichkeit sind grenzenlos. Denken Sie nur, daß jene, die sich keine Theaterkarten leisten können, die Vorstellung übers Telephon hören können. Dennoch bin ich besorgt über die Folgen dieser Erfindung, da der Mensch eben faul ist, denn nichts kann das Erlebnis ersetzen, einen Tempel der dramatischen Kunst zu betreten, seinen Platz inmitten der anderen Zuschauer einzunehmen und einen großen Schauspieler auf der Bühne zu sehen. Wenn einst in jedem Haus ein Telephon ist, wird dann überhaupt noch jemand ins Theater gehen?

    Auch das Thema Fotografie, das Susan Sontag einst berühmt gemacht hat, taucht in der Art trivialen Befindlichkeitsgetues wieder auf, als Maryna sich zum ersten Mal privat ablichten läßt:

    "Es war etwas völlig Natürliches, als Schauspielerin, im Kostüm einer meiner Rollen, photographiert zu werden. Da wußte ich, was ich für die Kamera tun sollte und wie ich aussehen wollte. Heute habe ich in einer Leere posiert. Vorgegeben, etwas darzustellen. Gespielt, photographiert zu werden." Unmöglich, sich aufrichtig zu fühlen, während man photographiert wird.

    Vielleicht krankt der Roman an der grundsätzlichen Fehlentscheidung, auf eine blasse Heldin zu setzen. Als einziger interessanter Charakter erweist sich Marynas Mann Bogdan - aber auch nur, solange er uns aus seinem Tagebuch entgegentritt, während seine Nöte aus der Warte der auktorialen Erzählerin seltsam entrückt und kalt wirken. Das traditionelle, an den großen Erzählern des 19. Jahrhunderts orientierte Romanmodell Sontags verträgt derartige Kälte nicht, weswegen sie versucht, die mangelnde psychologische Durcharbeitung durch heftigen Farbauftrag wettzumachen. Stilistisch gerät "In Amerika" zum Patchwork-Teppich, in dem man einige Bestandteile sehr genau, andere nur bruchstückhaft identifizieren kann. Belesenheit, Tragödie aller intellektuellen Autoren, kann inneres Feuer nicht ersetzen. Ganz überflüssig und als Auftakt höchst ärgerlich sind die ersten 30 Seiten des Romans, die bezeichnenderweise die Überschrift "Null" tragen. Null heißt nicht vorhanden, und man verliert nichts, wenn man diese Einführung überspringt, sondern erspart sich den ersten unnötigen Perspektivwechsel in einer Reihe von unnötigen Perspektivwechseln. Das darin zutagetretende Autoren-Ich Susan Sontags hat nichts Nennenswertes mitzuteilen und verliert sich nach einigen Klammereinschüben im grauen Dunst der Geschichte. Bemerkenswert dilettantisch für eine so arrivierte Autorin, die in der Figur der Maryna etwas für sich entdeckt haben muß, was sie anderen nicht mitzuteilen vermag. Absichtserklärungen interessieren Leser wenig, und fast wie ein Verweis auf abgelehnte Mängelhaftung wirkt der Satz von Seite 39:

    Eine Geschichte, ich meine, eine lange Geschichte, ein Roman, ist wie ein In-achtzig-Tagen-um-die-Welt: Ist man am Ende angelangt, kann man sich kaum noch an den Anfang erinnern.

    Wohl war. Aber wäre es nicht Sache der Autorin gewesen, daran etwas zu ändern?