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In ein paar Wochen die jährliche Strahlendosis

Weißrussland war am schlimmsten betroffen, als am 26. April 1986 der Reaktor 4 in Tschernobyl explodierte. 70 Prozent des radioaktiven Niederschlags gingen hier nieder, 7000 Quadratkilometer wurden zur Sperrzone erklärt und 135.000 Menschen evakuiert. Doch einige sind zurückgekehrt.

Von Mareike Aden | 31.03.2011
    Eine Asphaltstraße führt streng geradeaus, links und rechts stehen Birkenwälder. Dazwischen verfallene Schulen, Wohnhäuser und Bauernhöfe. Warnschilder mit dem Atomzeichen und dem Hinweis "Radioaktive Gefahr, Einfahrt verboten" stehen am Straßenrand.

    Niemand soll abkommen von der Hauptstraße im weißrussischen Teil der Tschernobyl-Sperrzone in der Region Gomel. Für den Transit im Auto oder LKW ist sie geöffnet. Doch bleiben darf man hier nicht.

    Schon ein paar Wochen Aufenthalt reichen aus, um der jährlichen Strahlenhöchstdosis ausgesetzt zu sein, die Wissenschaftler gerade noch für unbedenklich halten.
    Wind und Regenwolken brachten die Strahlung aus Tschernobyl im April 1986 auch in das gelbe Holzhaus und den Garten von Jelena Mujietschenko mitten in der Sperrzone. Gerade füttert sie ihre Gänse - von Gefahr will sie nichts hören.

    "Sie haben die Leute umsonst von hier weggejagt, sie haben alles kaputt gemacht, die Kolchosen, die Fabriken – alles."

    Ihr Dorf Bartholomewka wurde zwangsgeräumt, wenn auch erst zwei Jahre nach dem Gau.
    In den wenigen Mehretagenhäusern, die noch stehen, wurden die Treppen eingeschlagen, damit niemand hineingeht. Schmelzwasser tropft aus den Fenster- und Türhöhlen. Die rund 1300 Dorfbewohner wurden wie alle 135.000 Menschen der evakuierten Zonen in Gemeinschaftswohnungen in Städten wie Minsk oder Gomel untergebracht.
    Jelena Mijetschenko, ihrem Mann und dem erwachsenen Sohn war es dort zu eng, sie kamen bald wieder zurück.

    "Sie haben uns gesagt, dass wir gehen müssen und uns rausgeworfen. Als wir wieder da waren, kamen sie immer wieder – aber ich sagte: Ich verlasse meine Heimat nicht. Und Strahlung ist doch überall auf der Welt, meine Liebe. Ich jedenfalls esse alles, was ich im Garten anbaue und auch die Pilze aus dem Wald."

    Vor dem Haus steht ein Brunnen, das Wasser benutzt Jelena Mujitschenko auch zum Kochen und Waschen. Den Brunnen teilt sie mit einer Handvoll Nachbarn, ebenfalls Rückkehrer. Aber die sind nicht ansprechbar: Obwohl es gerade einmal Mittag ist, schwankt ein Mann um die 50 pöbelnd umher, eine weitere Frau liegt ebenfalls betrunken im Tiefschlaf auf dem Sofa von Jelena Mujitschenko, inmitten traditionell bunt bestickter Kissen, auf die sie so stolz ist.

    "Ich lebe und bete allein. Mein Sohn ist schon vor drei Jahren gestorben und mein Mann vor acht Monaten. Und so lebe ich nun also allein in meinem Haus. Meine Tochter wohnt noch in Gomel mit meinen beiden Enkelinnen. Eine von ihnen ist Polizistin. Sie kommt manchmal am Wochenende, um mir zu helfen im Garten und um aufzuräumen."

    Inzwischen ist eine Patrouille der Sperrzonenpolizei, die das Gebiet bewacht, zum Haus der alten Frau gekommen. Die wenigen Bewohner dulden sie mittlerweile, aber wenn Fremde kommen, wollen sie eine Genehmigung der Regionalbehörde sehen. Abseits des Mikrofons erzählen sie, dass sie nicht glücklich über ihren Einsatzort sind. Sie kennen die um ein Vielfaches erhöhte Schilddrüsenkrebsrate in der ganzen Region seit dem Gau von Tschernobyl. Aber irgendwie haben auch sie sich an das Leben und Arbeiten inmitten der Strahlung gewöhnt. Schließlich lässt auch ihr Präsident Alexander Lukaschenko immer wieder verlauten: Weißrussland habe die Langzeitfolgen von Tschernobyl unter Kontrolle.

    Zum Abschied will Jelena Mujitschenko ihren Besuchern Pilze einpacken – alle lehnen ab.