Donnerstag, 18. April 2024

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In kalter Absicht

Es gibt Passionen, die verlangen bisweilen einen harten Körpereinsatz. Und das ist der Grund, warum die norwegische Krimiautorin Anne Holt ihre jüngste Lesereise in Deutschland mit einem rund um ihr linkes Auge erblühten, zartlila Veilchen antreten musste. Anne Holt, die Vielseitige, die als Juristin auf eine Karriere als Anwältin, stellvertretende Polizeichefin von Oslo und kurzzeitige Justizministerin zurück blicken kann, ist eben auch eine passionierte Fußballspielerin - und da darf man oder Frau im Nahkampf bekanntlich nicht zimperlich sein. Zarte Gemüter sollten denn auch eine angemessene Stärkung bereit halten, bevor sie zum neuen Krimi von Anne Holt greifen. Im Mittelpunkt der Handlung von "In kalter Absicht" steht eine Reihe von mysteriösen Kindesentführungen und -Tötungen, die ein psychopathischer Täter nach einem ausgeklügelten Plan Schritt für Schritt ins Werk setzt. Spannung erzeugt Holt aber nicht durch die Schilderung der grausamen Taten, sondern vielmehr durch die langsame Annäherung an die Psyche des Täters und seinen biographischen Hintergrund:

Elke Biesel | 14.05.2002
    Ich versuche ein furchtbares Verbrechen zu beschreiben, aber zugleich teile ich den Lesern etwas über die Dinge mit, die nach meinem Gefühl in unserer Gesellschaft schief laufen. Dieser Mörder und Kidnapper hat seine eigene Geschichte, von der ich glaube, dass sie seine Taten zum Teil erklärt. ... Ich denke, Fiktion sollte Gesellschaft und Realität reflektieren.

    Ein Schwerpunkt dieser Betrachtung der realen Welt ist im neuen Buch die Frage, was brauchen Kinder nachdem die Strukturen der traditionellen Familie sich aufgelöst haben. Auf jeden Fall mehr als nur eine einzige erwachsene Bezugsperson, wie es immer öfter der Fall sei, sagt Anne Holt. Ihr Mörder ist ein Verlassener, der nie erfahren hat, wer sein Vater ist und dessen Wurzellosigkeit in Hass umschlägt.

    Eingefleischte Holt-Leser müssen in diesem Fall allerdings auf die ihnen möglicherweise ans Herz gewachsene Heldin der vorangegangenen Romane verzichten. Die eigenwillige Hauptkommissarin Hanne Wilhelmsen ermittelt nicht. Sie sei nicht die richtige gewesen, um die beiden Stränge der Handlung zusammen zu führen, sagt Anne Holt, deren Ausgangspunkt für das Buch ein alter Justizskandal aus den 30er Jahren war. Deshalb hat sie den gutmütigen und vom Leben gebeutelten Kommissar Yngvar Stubo erfunden und seiner Intuition die messerscharfe Analysekraft der jungen Psychologin und Juristin Inger Johanne Vik zur Seite gestellt. Vik, geschiedene Mutter eines behinderten Kindes, ist zerrissen zwischen wissen- schaftlicher Neugier und den Anforderungen ihres Alltags: eine moderne Frau, wie Holt sie sieht:

    Diese Frau ist sehr kontrolliert. Ich empfinde sie als sehr typisch für eine moderne, skandinavische Frau mit all diesen Ansprüchen, die an sie gestellt werden von den Eltern, den Freunden, der Arbeit, dem Ex-Mann. Aber durch dieses Kind, das ich ihr gegeben habe, ist sie auf eine bestimmte Weise verletzlich geworden.

    Holts Leser werden allerdings in Zukunft nicht gänzlich auf Hauptkommissarin Hanne Wilhelmsen verzichten müssen. Die Autorin, die inzwischen ihren Beruf als Anwältin ganz an den Nagel gehängt hat, sitzt gerade an Wilhelmsens neuem Fall, der im nächsten Jahr erscheinen soll. Parallel dazu wird Holt aber auch das Duo Ingvar Stubo und Inger Vik nicht vernachlässigen, drei Romane mit den beiden Helden, in denen noch viel Entwicklungspotential steckt, sind bislang geplant. Anne Holts Krimi-Universum wächst also, eine Konstante ist aber auch im neuen Buch unverkennbar: Wie immer geht es im Kern um Gefühle von Rache und Gerechtigkeit.

    Alle meine Bücher handeln von Rache. Ich würde sogar sagen, alle Kriminalromane handeln von Rache. Es ist ein sehr wichtiges Thema in der Literatur überhaupt, denn es ist ein wichtiges Thema im menschlichen Leben. Aber in der westlichen Zivilisation haben wir die Tendenz, dieses Verlangen nach Rache und Gerechtigkeit und seine Befriedigung zu unterschätzen.

    Die sublimierte Befriedigung dieser Gefühle im Kriminalroman sei ein Grund, warum er so viel gelesen werde, glaubt Anne Holt. Die Leser identifizieren sich sehr stark mit den Büchern, das merkt sie immer dann, wenn ihr trotz akribischer Recherchen ein kleiner Fehler bei den Fakten unterlaufen ist. Eine Autofarbe, die es bei dieser Marke in diesem Jahr nicht gab? Da könne sie sicher sein, dass ein Leser sie im Nachhinein auf diesen Fehler aufmerksam machen werde, sagt die Autorin und lacht.

    Sie wird dem Kriminalroman auch in Zukunft treu bleiben. Zwar hat sie auch schon ein Buch über ihren geliebten Fußball geschrieben, einen Liebesroman und ein Kinderbuch, das ihr viel Spaß gemacht hat, aber ihr Herz schlägt eindeutig für das Verbrechen und seine Psychologie. In der Struktur allerdings unterscheide sich ein guter Krimi nicht von einem guten Kinderbuch, bemerkt Holt. Denn am Ende muss die Welt wieder zu ihrer Ordnung zurück finden:

    Dieses Rezept, nach dem sie zunächst Ordnung haben und dann Chaos und dann wieder Ordnung, das ist das Rezept für einen guten Kriminalroman, aber es ist darüber hinaus auch das Rezept für ein gutes Kinderbuch. Das ist genau das Gleiche. Ich sage deshalb immer, dass Krimis Kinderbücher für Erwachsene sind.

    Anne Holts "Kinderbücher für Erwachsene" zeichnen sich durch kriminologische Detailkenntnis, sorgfältige Personenführung, liebevoll gezeichnete Charaktere und kunstvoll aufgebaute Spannung aus. Im neuen Buch verzeiht der Leser ihr ob dieser Vorzüge deshalb auch einen Schluss, in dem die Räder allzu glatt ineinander greifen. - Aber Ordnung muss eben sein am Ende eines guten Krimis.