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In Paris dauerpräsent, in Deutschland nahezu unbekannt

Im vergangenen Sommer, bei der Biennale in Bonn, galt der Franzose Valère Novarina als einer der ungekrönten Könige des Festivals. Was gleichzeitig einen Sieg des Autorentheaters bedeutete: Novarina erscheint wie ein Wiedergänger seines Landsmanns Molière, der mit seiner Truppe das Urbild der Theatermacherei verkörperte, als Bühnenbildner eigener Hand, als Regisseur, Autor, Schauspieler.

Von Ute Nyssen | 03.02.2006
    Valère Novarina, einer der wichtigsten zeitgenössischen Dramatiker, im Licht. Die Comédie Francaise, und das ist nahezu revolutionär, bringt in ihrem Großen Haus Novarinas Theaterstück L`ESPACE FURIEUX, zu deutsch etwa "Der Raum außer sich". Bühnenbild und Inszenierung stammen von Novarina selber, der 58-Jährige hat mehrfach seinen Rang auch als Theatermacher unter Beweis gestellt.

    Gleichzeitig spielt sieben Wochen lang das Theatre Lavoir Moderne Parisien im 18. Arrondissement sechs weitere Stücke dieses Autors. Die bisherigen Inszenierungen in dem experimentellen kleinen Theater standen der Kunstfertigkeit aller Mitwirkenden in der Comédie Francaise in nichts nach. Claude Merlin verkörpert hier in dem Einpersonenstück L`AVANT- DERNIER DES HOMMES, "Der vorletzte Mensch", eine Figur im Unterholz der Städte. Er breitet Überbleibsel wie sie ein Fluss angeschwemmt haben könnte vor sich aus, klopft sie ab mit einem Stöckchen und versucht, die Materialität dieser irdischen Reste zu ergründen, indem er sie durch Benennung seiner Sprache einverleibt. Wie mit Zungen sprechend, verklärt, lässt dieser grazile Schauspieler Novarinas auch intellektuell äußerst anspruchsvollen poetischen Text entstehen.

    Die Schichten der Anspielungen ausloten, hieße pro Satz ein Lexikon verfassen, aber auf der Bühne funktioniert der Text spontan: durch seinen Witz, seine Widerborstigkeit, die Unschuld der Fragestellungen. Er lässt an viele literarische Vorfahren denken, von Rabelais bis zu den Surrealisten oder Beckett, aber insbesondere an Texte von Mystikern wie Meister Ekkehard. Doch Novarinas Ton ist hier wie in allen seinen Stücken ganz unverkennbar eigen, anhaltend frech, und bohrend wie ein Ohrwurm. Der große Erfolg beim Publikum- die Aufführungen sind immer ausverkauft - wurde noch übertrumpft durch L`OPERETTE IMAGINAIRE, "Die imaginäre Operette". Ein großes Ensemble jugendlicher Schauspieler mit einigen erstklassigen Musikern. "Air de lune" nennt sich diese Compagnie, die mit einer Novarinas Werk kongenialen Inszenierung von Marie Ballet und Jean Bellori ein Gesamtkunstwerk hervorzaubert. "Operettenpublikum, pass auf! Mach nicht, dass ich Blut vergieße". So beginnt es. Lauter verrückte Lebensvirtuosen, Traumtänzer allesamt, bevölkern die Bühne - Novarina ist auch ein großer Figurenerfinder. Spöttisch knapp wird der operettenhafte Verlauf des menschlichen Lebens vorgeführt: Liebe, Heirat, Tod. Eine sprachliche Bravourarie setzt eins drauf und überführt auch den Roman der Ansammlung operettenhaften Schrotts.

    Diese gnadenlose Lebens- und Kunst -Kritik will weniger parodieren als frische Luft zum Denken schaffen. Barocke Musikeinlagen, schmelzend schön gesungen zu Cello, Geige, Percussion und Klavier kontrapunktieren sie. Novarina setzt den Zuschauer Wechselbädern aus. Am Schluss ein Toter. Die letzten Sätze lauten: "Haltet an mit der Operette. Schweigt", Mit dem Sterben endet auch L`ESPACE FURIEUX in der Comédie Francaise und der Regisseur Novarina hat dafür ein starkes theatralisches Bild gefunden: eine Frau, deren letzte Augenblicke gezählt sind, kostet sie mit der Aufzählung von Pflanzen zum letzten mal aus. Dabei lehnt sie sich gegen eine Holzbahre, die langsam nach hinten kippt, gehalten von einem Schwarzgekleideten als Totengräber. In diesem Theater spielen vornehmlich alte Schauspieler, sie stellen durchschnittliche Menschen dar.

    Zwei allegorische "Antipersonen", Logik und Grammatik, weißgekleidet wie Krankenpfleger oder Engel, fordern sie heraus - oder lassen sie im Stich und oft stehen sie sehr allein und einsam in dem weiten grau-blauen Raum, "Ich bin", lautet eine Neoninschrift im Hintergrund, die knappe Formel für das Lebensgeheimnis dieser Figuren, die manchmal mit vorsichtigen Tanzschritten außer sich geraten und zugleich in einem Aufschwung von Freude zu sich gelangen. Im zweiten Teil dieser Inszenierung gab es einige Längen - wie immer bei Eigenregie eines Autors fehlte wohl dramaturgische Kritik - , aber das ist schon eine beckmesserische Einschränkung gegenüber diesem ungewöhnlichen Ereignis, das mit starkem Applaus gefeiert wurde.