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In schwierigen Zeiten Zeugnis ablegen

Der 1927 in Argentinien geborene Rodolfo Walsh war ein Journalist, der keine falsche Objektivität vortäuschte, sondern engagiert mit sozialkritischen Reportagen auf Missstände aufmerksam machte. Nach der Machtergreifung der Militärs in den 70ern leistete er mit der Schreibmaschine Widerstand aus dem Untergrund, verschickte 1977 den berühmt gewordenen "Offenen Brief eines Schriftstellers an die Militärjunta" - und wurde noch am selben Tag ermordet.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 15.09.2010
    "Ich frage mich, was wäre heute mit Rodolfos Schönheit,
    dieser Schönheit im langsamen Flug
    die seine Augen glänzen ließ."


    heißt es in einem Gedicht von Juan Gelman über den argentinischen Journalisten und Schriftsteller Rodolfo Walsh. Der wurde 1927 in der Provinz Rio Negro als Sohn irischer Einwanderer geboren und war Korrekturleser und Krimiübersetzer bei Hachette, ehe er sich dem Journalismus zuwandte und mit sozialkritischen Reportagen die Gesellschaft wachrütteln und verändern wollte. In den euphorischen Anfangsjahren der kubanischen Revolution gründete Rodolfo Walsh mit seinem Landsmann und Kollegen Jorge Ricardo Masetti und dem kolumbianischen Nobelpreisträger Gabriel García Márquez die Nachrichtenagentur PRENSA LATINA, wo er 1961 ein geheimes und verschlüsseltes Kabel entzifferte über die geplante Landung von US-Streitkräften in der Schweinebucht.

    Wieder zurück in Argentinien schrieb Rodolfo Walsh für Zeitschriften wie PRIMERA PLANA und PANORAMA und war seit 1968 Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung CGT. Nach der Machtergreifung der Militärs gründete er 1976 die geheime Nachrichtenagentur ANCLA. Wenn von der Militärdiktatur und ihren Folgen die Rede ist, wird stets Rodolfo Walshs "Offener Brief eines Schriftstellers an die Militärjunta" zitiert, in dem er präzis und detailliert den Staatsterrorismus der Junta kritisiert und die damit einhergehende Verarmung der Mittelschicht und Arbeiterschaft. Rodolfo Walsh hatte diesen Brief verfasst, "getreu der Verpflichtung, die ich vor Langem eingegangen bin, in schwierigen Zeiten Zeugnis abzulegen." Am 25. März 1977, einen Tag nach der mutigen Veröffentlichung des Briefes, wurde Rodolfo Walsh von einem Militärkommando auf den Straßen von Buenos Aires erschossen.

    Dank des argentinischen Übersetzungsförderungsprogramms SUR liegen nunmehr gleich drei Werke von Rodolfo Walsh auf Deutsch vor: seine frühen Kriminalgeschichten "Die Augen des Verräters", die späten Erzählungen "Ein schwarzer Tag für die Gerechtigkeit" sowie Erich Hackls Neuübersetzung seines wohl berühmtesten Werks, des 1957 erschienenen Berichts "Das Massaker von San Martin", den Jorge Cedrón 1971 verfilmte. Nachdem Rodolfo Walsh rein zufällig in einem Kaffeehaus von Buenos Aires gehört hatte, dass auf den Müllhalden von José León Suárez Zivilisten erschossen worden waren, wobei einer entkommen sein sollte, begann er hartnäckig und geduldig zu recherchieren. "Bei der Arbeit daran war ich nicht nur persönlich bestürzt, mir wurde auch klar, dass eine bedrohliche äußere Welt existiert." Sagte er später über den Entstehungsprozess dieses Werkes, das einen Wendepunkt in seinem Schaffen markierte. Das Ergebnis seiner Recherchen erschien zuerst in Form von sieben Einzelreportagen in der Zeitschrift MAYORIA. In einem 1973 erschienenen Interview mit dem Schriftsteller Ricardo Piglia hatte Rodolfo Walsh den Verzicht auf die Romanform wie folgt erklärt:

    "Eine neue Art von Gesellschaft und neue Art der Produktion hat auch eine neue Form von Kunst, eine recht dokumentarische Kunst nötig, eine Kunst, die sich mehr am Beweisbaren orientiert."

    "Das Massaker von San Martin" beginnt mit den Miniporträts von ein paar Männern, die sich kennen und am Abend des 9. Juni 1956 im Hinterhaus von Juan Carlos Torres gemeinsam die Radioübertragung eines Boxkampfes anhören wollen. Doch an jenem Abend dringen zu vorgerückter Stunde bewaffnete Männer in Polizeiuniform und Zivil in die Wohnung, auf der Suche nach vermeintlichen Aufständischen und Rebellen. Die in der Wohnung versammelten Männer werden abgeführt, in einen Kleinbus verfrachtet und in die Außenbezirke von Buenos Aires transportiert. Auf der Müllhalde von José León Suárez versucht man, sie zu erschießen, ein paar Männer können sich retten. In einer von Rodolfo Walsh gesprochenen Hörfunkadaption des Berichts wird der Beginn des Massakers wie folgt beschrieben:

    "Die Polizisten treiben sie wie eine verschreckte Herde zur Müllhalde. Der Kleinbus ist stehen geblieben, seine Scheinwerfer sind weiterhin auf sie gerichtet. Es ist, als würden die Gefangenen in einem belebten Lichtsee treiben. Rodríguez Moreno steigt mit der Pistole in der Hand aus dem Bus. Ab diesem Moment teilt sich die Geschichte in viele Geschichten auf, zerplatzt zu zwölf oder dreizehn Panikfetzen."
    Rodolfo Walsh begnügt sich nicht mit der Schilderung des Massakers und der Lebensumstände der daran Beteiligten, sondern analysiert mit großer Sorgfalt und Präzision das soziale Umfeld, das Versagen der staatlichen Institutionen, die Nichtbeachtung verfassungsmäßig garantierter Grundrechte, die sozialen Spannungen, die sich am Ort des Geschehens entladen, wo Schaulustige eine Limousine mit Steinen bewerfen, nachdem die arrogante Beifahrerin gemurmelt hatte: "Man sollte sie alle abmurksen." Das Ergebnis von Walshs Recherchen ist niederschmetternd: Das Massaker entbehrte jeder rechtlichen Grundlage und war keine, wie es in den offiziellen Verlautbarungen hieß, Exekution von Aufständischen.

    Mit ungemeiner Klarheit, ja mit der der Hellsichtigkeit eines Propheten im Hinblick auf die Militärdiktatur der siebziger Jahre hat Rodolfo Walsh die Aushebelung der verfassungsmäßig garantierten Grundrechte angeprangert, den Korpsgeist von Polizei und Justiz, die Blindheit der Justiz, die er in diesen Worten beschreibt:

    "Das also ist der Schandfleck, der sich gleichermaßen über die Regierung, die Justiz und die Armee ausbreitet: dass die in Florida festgenommenen bestraft wurden, mit dem Tod und ohne Verfahren und indem ihr Fall den von Gesetz wegen damit betrauten Richtern entzogen wurde, und aufgrund eines Gesetzes, das nach dem Anlassfall des Verfahrens in Kraft trat, und sogar ohne Anlassfall und ohne Verfahren." (S.172)

    "Ich allein und meine Seele als einzige Autorität", so erklärt der erfahrene Kommissar Laurenzi in einem Kaffeehaus von Buenos Aires, wie er in der tiefen Provinz bei seinen Ermittlungen vorging. Kommissar Lorenzo ist der Protagonist von Rodolfo Walshs 1953 erschienenen Kriminalgeschichten "Die Augen des Verräters". Beim Schach oder beim Essen erzählt der erfahrene Kommissar anschaulich von seinen schwierigen Ermittlungen in der Provinz, von riesigen Landgütern und selbstherrlichen Großgrundbesitzern, vom "unermesslichen Ausmaß an Armut und Wahnsinn", sodass Volksverführer wie der "Erleuchtete" gut ankommen, zumal er den Dorfbewohnern das Blaue vom Himmel verspricht und in eine Art Trance versetzt.

    "Er versprach ihnen das Wunder, ein weitreichendes Wunder, das all diese geschlagenen Gesichter, all diese wunden Gliedmaßen berühren würde. Der alte Fluss würde in sein ausgetrocknetes Bett zurückkehren. In dieser Nacht würde vom Himmel ein reinigender und wohltätiger Regen niedergehen. Mit offenen Armen malte er imaginäre Reichtümer, fantastische Fruchtbarkeit aus." (S.46)

    Der Band "Ein schwarzer Tag für die Gerechtigkeit" enthält all die Erzählungen, die Walsh neben Jorge Luis Borges und Julio Cortázar zum herausragenden Erzähler der argentinischen Literatur des XX. Jahrhunderts machen. Allen voran die Erzählung "Diese Frau" mit ihren raffinierten Spielereien und Spekulationen über Evita Peróns einbalsamierten und verschwundenen Leichnam.

    Manche Erzählungen sind autobiografisch gefärbt; etwa "Die irdischen Dienste" oder "Iren jagen einen Kater" über die Schulzeit in einem katholischen Jungeninternat, übergriffige Erzieher, die die Hackordnung im Schlafsaal und auf dem Schulhof festsetzen, ein Festmahl für die bedürftigen Internatszöglinge, das die wohltätigen und bigotten Damen der Gesellschaft ausrichten. Die restlichen Erzählungen handeln von dekadenten Großgrundbesitzerfamilien, Ehe - und Beziehungsdramen, autoritätsgläubigen Wachsoldaten.

    Rodolfo Walsh erzählt detailfreudig und präzis, beherrscht die literarischen Collage- und Montagetechniken und zeigt ein Argentinien der sozialen Spannungen und latenten Gewalt. Unter solchen Verhältnissen haben es angehende Künstler besonders schwer. Sie werden schnell zu Außenseitern, Einzelgängern oder Selbstmordkandidaten. Beispielsweise der junge Fotograf Mauricio in der Erzählung "Fotos". Nachdem er die Tochter eines Majors fotografiert hatte, ernannte ihn der Major kurzerhand zum Regimentsfotograf, obwohl Mauricio künstlerische Ambitionen hatte:

    "Insgeheim hat sich Mauricio etwas Ungeheures vorgenommen: Er will Künstler sein, sich der Kunst widmen (...) Er baut sich vor dieser Welt auf und verkündet mit kindlichem Trotz, er wolle die unendliche, schreckliche Schöpfung vervollständigen und das mit ein paar Fotos aus einem kleinen Kaff an der südlichen Eisenbahnlinie der Republik Argentinien." (S. 38)

    Wer sich über die politischen und sozialen Verhältnisse im Argentinien des 20. Jahrhunderts informieren will und das anschauliche und präzise Erzählen liebt, sollte unbedingt zu Rodolfo Walsh greifen, diesem unerschrockenen Schriftsteller und Journalisten, der sich nicht vereinnahmen ließ und unerbittlich das fatale Zusammenspiel von Wirtschaft und Politik aufzeigte, lang bevor die Militärs 1976 die Macht an sich rissen.

    Rodolfo Walsh: Die Augen des Verräters
    aus dem Spanischen von der Gruppe "Transports"

    Rodolfo Walsh: Das Massaker von San Martin
    aus dem Spanischen und mit einem Nachwort von Erich Hackl
    (Rotpunkt Verlag, Zürich)

    Rodolfo Walsh: Ein schwarzer Tag für die Gerechtigkeit
    aus dem argentinischen Spanisch von Lutz Kliche
    (Stockmann Verlag, Bad Vöslau/Österreich)