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"In Vielfalt geeint"

Am 7. Juni 1979 wurde das Europäische Parlament zum ersten Mal direkt gewählt. Es war ein Ereignis, das verschiedene politische Kulturen zusammenbrachte und auch prominente Zeitzeugen bewegte. Sie sprachen über Hoffnungen, Ängste und Visionen, die damals mit Europa verbunden waren.

Von Gerhard Klas | 07.06.2009
    "Sie wissen: Die Französische Revolution hat damit begonnen, dass der Tiers état seine eigene Versammlung gegründet hat. Und ich könnte mir diese Europäische Versammlung als eine Art Schrittmacher denken."

    Als am 7. Juni 1979 die ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament begannen, beflügelte dieses Ereignis nicht nur die Fantasie des Zukunftsforschers Robert Jungk. Für viele Bürger in den damals neun Mitgliedsstaaten verband sich damit auch die Vision eines geeinten Europas.

    Werbefilme und -anzeigen sollten 180 Millionen Bürger an die Urnen locken, um 410 Abgeordnete für das Europäische Parlament zu wählen.

    Für heutige Verhältnisse erreichte die Wahlbeteiligung Spitzenwerte: Italien 85, Luxemburg 89 und Belgien sogar 91 Prozent. Auch in Deutschland lag die Wahlbeteiligung über dem Durchschnittswert von 63 Prozent. Nicht nur die französischen Gaullisten, auch einige konservative Politiker in Deutschland, zum Beispiel Franz Josef Strauß, betrachteten die Direktwahl allerdings mit Skepsis.

    "Ich habe ja auch im Zusammenhang mit der Kandidatenliste der SPD den Eindruck, dass man den Versuch, eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen, einen Versuch, der in der Bundesrepublik stecken geblieben ist, am Widerstand der Bevölkerung gescheitert ist, an den Verhältnissen der politischen Wirklichkeit gescheitert ist, nun über die europäische Türe wieder von Neuem in die Bundesrepublik einführen will."

    Hingegen zählten damals die in Italien einflussreichen Kommunisten zu den glühendsten Verfechtern einer gemeinsamen Demokratisierung Europas. Sie hatten die Bewegung des Eurokommunismus ins Leben gerufen, die sich von der stalinistisch geprägten Sowjetunion abwandte und in Europa Demokratie und Kommunismus miteinander vereinen wollte. Die Eurokommunisten hofften ähnlich wie Robert Jungk auf eine politische Kurskorrektur in Europa.

    "Wogegen man sich wehrt ist ja nur die Herrschaft von oben, die zentrale Herrschaft, und hier - das muss man doch einmal offen sagen - hat sich die Großindustrie in Europa ja sehr stark eingeschaltet. Der Einfluss der Großfirmen, der Großkonzerne auf die westeuropäische Politik besonders, ist ganz deutlich."

    Die damaligen Erwartungen wichen bald der ernüchternden Erkenntnis, dass der reale Einfluss des Parlaments begrenzt blieb. Franz Josef Strauß hatte schon vor der Wahl in einem Interview mit dem Saarländischen Rundfunk darauf hingewiesen.

    "Dieses Parlament hat nicht das volle Budgetrecht, wie es zu den normalen Befugnissen eines demokratischen Parlamentes gehört, nämlich die Erhebung von Steuern. Es hat nicht ein Gesetzgebungsrecht auf irgendeinem Gebiet."

    Der Kampf um die Ausweitung der Rechte und Kompetenzen des EU-Parlaments prägte die ersten Legislaturperioden. Altiero Spinelli, kommunistischer Abgeordneter aus Italien, legte 1984 den ersten Verfassungsentwurf für Europa vor, der dem Parlament weitgehende Rechte zusprach und dort mehrheitlich angenommen wurde. Der Europäische Rat lehnte den Entwurf Spinellis jedoch ab. Es blieb bei der bloßen Beratungsfunktion.

    Erst ab 1992 und 2001 mit den Verträgen von Maastricht und Nizza erhielt das EU-Parlament weitere Befugnisse, insbesondere eine abgestufte Gesetzgebungskompetenz. Neben Anhörungs- und Mitentscheidungsrechten, bei denen unter anderem im Bereich Verbraucherschutz, Bildung, Kultur und Gesundheit eine Gleichstellung mit dem Europäischen Rat erfolgte, stehen dem Parlament heute im sogenannten Zustimmungsverfahren neue Kompetenzen zu, etwa bei den Beitritts- und Assoziierungsabkommen mit Drittstaaten. So konnte zum Beispiel die Osterweiterung erst erfolgen, nachdem das Europäische Parlament zugestimmt hatte. In anderen wichtigen Bereichen, zum Beispiel bei Internationalen Handelsabkommen, hat das Parlament jedoch keinerlei Mitspracherechte.

    Obwohl sie eher symbolischer Natur war, löste die erste Direktwahl doch eine Debatte um das Selbstverständnis Europas aus. Intellektuelle wie der Schriftsteller Heinrich Böll wiesen etwa auf die bedenkliche historische Rolle Europas in der Welt hin.

    "Europäisch denken bedeutete bis 1945, mehr oder weniger kolonialistisch denken. Ich glaube, was europäisch denken bedeutete, da sollte man die Völker Afrikas, Südamerikas und Ostasiens fragen, was die darunter verstehen. Wir haben uns da immer ein bisschen zuviel eingebildet, glaube ich. Das hier wäre ein ganz neues europäisches Denken."