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"In Wahrheit war sie tief depressiv"

Der Journalist Heribert Schwan hat eine Biografie über Helmut Kohls Frau Hannelore geschrieben. Der Alt-Kanzler ist davon nicht begeistert. Das Werk sei "unanständig und geschmacklos".

Von Käthe Jowanowitsch und Stephanie Rapp | 04.07.2011
    Am 11. Juli 2001 wurde im Dom zu Speyer unter großer öffentlicher Anteilnahme eine Frau zu Grabe getragen, die 42 Jahre lang an der Seite von Helmut Kohl bundesdeutsche Politik aus nächster Nähe miterlebt hat. Eine Woche zuvor, am 5. Juli 2001, hatte sich Hannelore Kohl in ihrem Wohnhaus in Ludwigshafen-Oggersheim mit einer Überdosis Morphiumsulfat und Schlaftabletten das Leben genommen. Es war der Endpunkt eines jahrelangen Leidens.

    "Unser letztes Gespräch war drei Tage vor ihrem Tod. Und sie hat Wochen, Monate vor ihrem Tod mir Dinge anvertraut, die ich für mich behalten habe."

    Der Journalist und Historiker Heribert Schwan kannte Hannelore Kohl gut. Seit Mitte der 80er-Jahre, als er eine Biografie über ihren Mann schrieb, war er zu regelmäßigen Arbeitsbesuchen im Privathaus der Familie. Jetzt, zehn Jahre nach dem Selbstmord, hat er Hannelore Kohls Biografie veröffentlicht.

    "Am Ende des Jahres 2009 konnte ich mit den Recherchen beginnen und hab das aufgeschrieben, was sie mir als Vermächtnis, wie ich es sehe, anvertraut hat und was ich zusätzlich recherchiert habe und was ich natürlich auch von den Freundinnen und Freunden erfahren habe."

    In seinem Buch "Die Frau an seiner Seite. Leben und Leiden der Hannelore Kohl" zeichnet Schwan das Bild einer typisch deutschen Nachkriegsbiografie. Als Hannelore Renner war die spätere Kanzlergattin 1933, im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, in Berlin geboren worden. Sie wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen in Leipzig auf. Der Vater, technischer Direktor in einer der größten deutschen Rüstungsfabriken, war überzeugter Nazi. Mit dem Näherrücken der Roten Armee mussten Mutter und Tochter Renner nach Westen flüchten, ein traumatisierendes Erlebnis für die zwölfjährige Hannelore. Die Familie tat sich schwer, in der neuen Heimat Fuß zu fassen, und teilte damit das Schicksal von Millionen Flüchtlingen.

    1948 lernte Hannelore den damals 18-jährigen Helmut Kohl bei einem Tanztee in Ludwigshafen kennen. Die beiden sollten sich nicht wieder aus den Augen verlieren. 1960 heirateten sie. Obwohl sie selbst ein unpolitischer Mensch war, unterstützte Hannelore Kohl ihren Mann rückhaltlos bei seiner Karriere. Über ihn, den Kanzler der Einheit, ist alles bekannt. Hannelore Kohl dagegen blieb die Frau in seinem Schatten.

    "Ich war immer der Meinung, ich bin nicht der politische Mandatsträger, sondern ich stehe selbstverständlich entweder daneben oder durchaus auch zurück."

    Diese Frau, die zeitlebens ein großes Misstrauen gegenüber der Presse hegte, hat der Publizist Heribert Schwan ins Zentrum gerückt. Mit dem Instrumentarium des Historikers hat er ihr Leben analysiert: In Archiven recherchiert, Familiendokumente ausgewertet, mit Zeitzeugen und Wegbegleitern gesprochen. Das Bild, das er zeichnet, ist das Bild einer Frau, die zurücksteckt, sich opfert und den Zielen ihres Mannes unterordnet. Die schon als Kind gelernt hat, was Disziplin und Pflichterfüllung heißt. Die nach dem Krieg auf ein Studium verzichtet, weil das Geld fehlt. Die all ihre Kraft in das Wohlergehen der Familie steckt. Die zeitlebens nach Sicherheit und Stabilität sucht. Die nie aufbegehrt, auch dann nicht, als ihr klar wird, dass ihr Mann immer die Partei der Familie vorzieht.

    "Ja, da kann man eine Menge erfahren, wie dieser Narziss, dieser Machiavellist in der eigenen Familie herrschte. Man kann sehr viel erfahren über das Verhältnis Helmut Kohls zu seinen Söhnen. Man kann sehr viel erfahren, wie das Verhältnis zwischen Hannelore und Helmut Kohl war."

    Das Missverhältnis zwischen dem Machtpolitiker Helmut Kohl und seiner Familie haben schon die Söhne Walter und Peter in ihren Büchern beschrieben. Heribert Schwan aber fragt weiter: Er will Hannelore Kohls innerem Zwiespalt auf den Grund gehen. Den Schlüssel findet er in einem Kriegserlebnis, das Hannelore Kohl ein Leben lang traumatisiert hat: Die Zwölfjährige war von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt worden.

    "Sie hat es mir nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, sondern sie hat es mir auf Nachfragen auch beschrieben."

    Die Vergewaltigung war zwar in der Familie bekannt, nicht aber in der Öffentlichkeit. Dieses Ereignis, so Heribert Schwan, bestimmte ihr weiteres Leben. Es prägte ihr Verhältnis zu anderen Menschen und auch zu ihrem Ehemann, in dem sie den Beschützer suchte und zu dem sie bis über die Schmerzgrenze loyal war.

    "Man muss wissen, dass dieses Trauma der Vergewaltigung und der Flucht, dass dies ihr Leben lang bewegt hat. Sie hat damals eine Verletzung des Halswirbels gehabt und hat seit dieser Zeit auch ewig Schmerzen gehabt. Und sie war ja zum Schluss so tablettenabhängig, da hätte ja dringend eine Hilfe stattfinden müssen. Und sie hat es mir vielleicht auch deswegen gesagt, um vieles zu erklären. Auch das Maskenhafte, das äußerlich immer lächeln, immer fröhlich sein, aber innerlich zutiefst verletzt."

    Um den Folgen des Traumas auf die Spur zu kommen, begnügte sich Heribert Schwan nicht mit dem Werkzeug des Historikers. Er hat sich mit Psychotherapeuten und Traumaexperten beraten. Und begibt sich damit auf schwankenden Boden. Denn er vermutet, dass Hannelore Kohl bereits 1993 einen ersten Selbstmordversuch unternahm, als sie fast an einer Medikamentenunverträglichkeit starb. Daraus resultierte, so ist es allgemein bekannt, eine Lichtallergie, die ihre letzten Lebensjahre buchstäblich verdunkelte.

    "In Wahrheit hat sie keine Lichtallergie gehabt. In Wahrheit war sie tief depressiv. In Wahrheit kämpfte sie gegen das Trauma der Flucht. In Wahrheit war sie vereinsamt und verlassen und fühlte sich zuletzt durch die Spendenaffäre zutiefst gekränkt, in den Dreck gezogen und als "Spendenhure" genannt."

    Die CDU-Spendenaffäre holte Helmut Kohl nach dem Ende seiner Kanzlerschaft ein. Und nahm seine Familie in Mithaftung. Hannelore Kohl empfand einerseits die Berichterstattung über den Spendenskandal als massive Kränkung. Andererseits konnte sie nicht begreifen, dass Helmut Kohl die Namen der Spender nicht nennen wollte. Über die Affäre wurde sie immer kränker.

    "Sie konnte kein Licht ertragen, keine Lampen. Es war alles abgedunkelt bei ihr im Haus zuletzt, sie konnte keine Hitze ertragen, es war richtig eisigkalt bei ihr zu Hause. Sie lebte im Halbdunkel, das war schon schrecklich. Der tiefe Absturz, den sie 1945 mit ihrer Familie erlebt hatte, wiederholte sich praktisch mit der Spendenaffäre. Und die Spendenaffäre, das muss man heute eindeutig sagen, hat ein Todesopfer gefordert. Das Todesopfer war Hannelore Kohl."

    Es war ein besonderes Leben, ein herausragendes Leben, das Hannelore Kohl im Schatten der Macht geführt hat. Heribert Schwan folgt den Höhen und Tiefen mit erkennbarer Sympathie. Er schildert aber auch ein deutsches Frauenleben, das pars pro toto für das Schicksal der Kriegsgeneration steht. "Die Frau an seiner Seite. Leben und Leiden der Hannelore Kohl" ist – trotz Personenregister und Zeittafel – kein Geschichtsbuch, es ist aber auch kein Enthüllungsbuch. Es zeugt von großer Nähe, macht den Leser angesichts der vielen sehr privaten Details aber trotzdem ratlos. Ob Hannelore Kohl gewollt hätte, dass dieses Buch so erscheint?

    Heribert Schwan: "Die Frau an seiner Seite. Leben und Leiden der Hannelore Kohl", Heyne-Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro. ISBN:978-3-453-18175-5