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Indie-Folk-Band Daughter
Verstörte Romantik

Jahrelang war Elena Tonra eine Solokünstlerin ohne einen Plattenvertrag. Dann lernte sie den Schweizer Igor Haefelli und den Franzosen Remi Aguilella kennen und gründete mit ihnen Daughter. Anfang 2016 erschien das zweite Album der Band. Daughter verbinden düstere Indie-Folk-Songs mit sanfter Elektronik zu schöner, etwas verstörter Romantik.

Von Paul Baskerville | 29.05.2016
    Die Sängerin Elena Tonra bei einem Konzert mit ihrer Band Daughter in Kopenhagen; Aufnahme vom November 2013
    Die Sängerin Elena Tonra bei einem Konzert mit ihrer Band Daughter in Kopenhagen; Aufnahme vom November 2013 (imago/UIG)
    Das Trio Daughter wurde 2010 gegründet. Nach zwei erfolgreichen Alben gilt die Gruppe als Hauptakteur in der britischen Indierockszene. Sie lernten sich während ihrer Studienzeit auf der Universität von London kennen. Allerdings ist keiner von ihnen ein waschechter Engländer. Der Gitarrist Igor Haefeli ist Schweizer, der Schlagzeuger Remi Aquilella ist Franzose und die Sängerin und Gitarristin Elena Tonra ist halbirisch- halbitalienisch. Aber Daughter versteht sich als Londoner Band. Dazu Elena Tonra:
    "Zumindest wurde ich in England geboren, also bin ich am ehesten englisch. Mein Bruder lebt in Italien und hat dort eine Band gegründet. Ich hatte mich kürzlich mit ihm darüber unterhalten, dass ich es einfacher hatte als er, die ersten Gigs zu kriegen. Es gibt im Vergleich zu Italien so viele Klubs und mehr Chancen für unbekannte Künstler in London. Als Teenager hatte ich es auch gut, weil ich mit der U-Bahn zu Konzerten fahren konnte. Überhaupt hatte ich gute Voraussetzungen für kulturelle Begegnungen mit Musik."
    "Youth" - Album: "If you leave"
    Mit Abstand das bekannteste Lied der Band, millionenfach im Netz aufgerufen. Das Lied wurde schon für den Werbespot einer norwegischen Fluggesellschaft verwendet und bei der Übertragung der Tour de France im englischen Fernsehen eingespielt.
    Bereits das Debütalbum "If you leave" 2013 erzielte gute Chartplatzierungen in diversen Ländern. Dadurch hatte Daughter schnellen Erfolg, aber der Schein trügt, vor allem, was den Werdegang von Elena Tonra betrifft. Tonra hat den Erfolg über Jahre hart erarbeitet.
    "Ich habe relativ lange als Solokünstlerin gearbeitet. Zu Beginn schrieb ich Texte ohne musikalische Begleitung. Zu mir drangen zwar Melodien in meinen Kopf, aber ich hatte keine Instrumentierung dafür. Schon mit 13 hatte ich eine Schublade voller Gedichte. Ich war eine schräge 13-Jährige. Mit 15 lernte ich Gitarre und trat in kleinen Bars in Watford und Harrow auf. Ich fühlte mich als Solokünstlerin nicht selbstbewusst, und ich genoss es nicht, Musik allein zu machen. Als ich Igor und Remy kennenlernte, konnte ich den ganzen Arbeitsprozess mehr genießen. Es war einfach toll, andere Menschen auf der Bühne dabei zu haben. So kann man besser aus sich herausgehen und sich ausdrücken. Als wir die Band gegründet haben, hatten wir das Gefühl, in den Medien sehr freundlich aufgenommen zu werden. Meine schlimmen Erinnerungen an die Musikindustrie liegen weiter zurück, als ich als Solokünstlerin unterwegs war. Man hat mir weismachen wollen, dass ich anders aussehen muss und anders klingen muss, um ernst genommen zu werden. Das war schwierig. Irgendwann war es mir egal, was die Leute von mir hielten. Aber es dauerte halt eine Weile, bis ich an den Punkt angelangt war."
    "Still” - Album: "If you leave"
    Zweites Album ist rockorientierter
    Es muss eine bewusste Entscheidung des Gitarristen Igor gewesen sein, dass das zweite Album "Not to disappear" rockorientierter als das Debütalbum geworden ist? "If you leave", war eher eine Folkrock-Platte. Jedes Album wird vermutlich immer heavier, bis sie eines Tages ein Black-Metal-Album gemacht haben werden.
    Elena: "Hoffentlich."
    Igor: "Es wird sich zeigen. Was die Musikrichtung betrifft, versuchen wir uns nicht festzulegen. Daughter hat eine grundsätzliche Sensibilität, eine sofort wieder erkennbare Identität. Die beiden Alben sind sich ähnlich und dann wieder nicht. Das zweite Album entdeckt Rockterrain, das wir vorher nicht erforscht hatten. Was wir musikalisch machen oder nicht machen, hat viel mit Elena's Gefühlswelt zu tun. Wir komponieren die passende Musik für ihre Texte. Unsere Arrangements suchen in dieser Hinsicht eine Art emotionale Gegenliebe zu den Texten."
    ”New Ways” - Album "Not to disappear"
    Der Song "Doing the right thing" auf dem aktuellen Album "Not to disappear" handelt von der Alzheimerkrankheit. Elena's Großmutter leidet darunter.
    "Ehrlich gesagt hatte ich es nicht geplant, das Lied zu schreiben. Es kam aus heiterem Himmel, aber ich war dankbar, dass ich die Idee hatte. Ich habe es dringend gebraucht, das Thema in einem Song anzusprechen, um die Problematik zu verarbeiten. Ich dachte nicht: Ach, das ist ein gutes Thema für einen Popsong, aber es lag mir einfach sehr am Herzen. Wenn man ein Lied schreibt, gibt es immer irgendeine Motivation. Da stecken immer Gefühle dahinter. Aber wenn das Stück fertig ist, ist es nicht mehr im originalen rohen Zustand. Und nimmt vielleicht eine vielschichtige Bedeutung an. Die Emotionen werden abstrakter. Wenn ich das Lied dann live singe, empfinde ich nicht die gleichen Gefühle in voller Tiefe, die ich empfand, als es komponiert wurde. Es ist halt das künstlerische Endprodukt. Sicher denke ich an die Thematik, wenn ich das spiele, aber es ist kein negatives Gefühl, das mich irgendwie belastet."
    "Doing the right thing" - Album "Not to disappear"
    Elena's Gesang ist warm und einladend. Sie singt so entspannt, fast als ob es sich um Schlaflieder handeln würde. Sie wirkt so sanftmütig, aber dennoch hat ihre Stimme einen beherrschenden Einfluss. Ohne sie könnte es den Daughter-Sound nicht geben.
    "Ich habe immer meine Stimme als Werkzeug betrachtet, mit der ich arbeiten kann. Ich habe mir nicht eingebildet, dass ich eine richtige Sängerin bin. Ich benutze lediglich meine Stimme, um mein Songwriting umzusetzen. Wenn der Gesang melodisch ist, dann ist es zwar erfreulich, aber es geht in erster Linie darum, Geschichten in den Songs zu erzählen. Mein Gesang ist schon wichtig für die Band, klar. Man könnte es probieren, dass ich aussteige, mal sehen was passiert! Aber ganz im Ernst: Jeder von uns trägt sein Teil zum Sound bei. Es sind drei Köpfe, die miteinander verschmelzen."
    "Alone with you" - Album "Not to disappear"
    Ein Hund gegen die Einsamkeit
    Man könnte glauben, Elena Tonras Gefühl regelrecht in ihrem Blick lesen zu können. Ihre Augen strahlen, wenn sie von ihrer Musik spricht. Aber sie ist immer dezent dabei und ist nie aufgeblasen. Sie lächelt gerne, vor allem ist sie gerne selbstironisch, wenn man was Positives über Daughter sagt. Elena hat keinen dominanten Gesangsstil, aber ihre Sprache ist sehr deutlich. Sie zieht in den Bann, wie eine sanfte aber doch aufregende Verführung. Teilweise singt sie so direkt, als spreche sie die Hörer unmittelbar an. Zum Beispiel im Lied "Alone with you", in dem sie die Absicht erklärt, einen Hund gegen die Einsamkeit anzuschaffen.
    "Ich bin schon froh, dass die Leute auf den Inhalt meines Gefasels achten. Ja, genau! Ich dachte, ich hole mir ein flauschiges Haustier. Und alles wird gut. Das Debütalbum war, vom Textlichen her, im Vergleich zu dieser Platte deutlich rätselhafter. Es gab mehr Metaphorik. Ich habe mich eher versteckt. Dieses Album ist direkter, die Texte werden eher in so einer Art Plauderstil vorgetragen. Das war aber keine bewusste Entwicklung. Ich zensiere mich nicht. Ab und zu mal hatte ich Bedenken. Ich dachte: Teile ich hier zu viel Information mit? Aber ich hätte es nicht als richtig empfunden, was daran zu ändern. Also ließ ich alles wie es war."
    "Alone with you" - Album "Not to disappear"
    "Nein, mein Lebenswandel eignet sich nicht wirklich für ein Haustier. Die Texte handeln von der Ambivalenz des Lebens: die Vor-und Nachteile von einer Beziehung. Es stellt die Frage: Ist es besser allein zu sein oder nicht? Daher das Wortspiel "Alone with you". Es ist das beste Beispiel auf dem Album, von einem Song mit sehr direkten Texten. Das Lied ist im Prinzip eine Konversation mit einer anderen Person."
    "Alone with you" - Album "Not to disappear"
    Elena hat schon früher Gedichte ohne musikalische Begleitung geschrieben, und hat einen Konversationston, wenn sie singt, also wäre theoretisch ein Spoken-Word-Album wie bei Lydia Lunch oder Henry Rollins, zumindest als Nebenprojekt vorstellbar.
    "Bin mir nicht sicher, ob irgendjemand von mir eine Spoken-Word-Platte gerne hören würde. Zum Glück haben wir ziemlich erbauliche Musik, die als Kulisse für meine Untergangstimmungsbotschaften dient."
    Elena macht schon den Eindruck einer Chefin. Sie ist möglicherweise vergleichbar wichtig für den Charakter der Band Daughter wie Florence Welch für Florence and the Machine oder Marina Diamandis für Marina and the Diamonds. Die Popprinzessin mit Begleitband, die das Sagen hat. Aber Elena sieht es anders.
    "Glaube nicht, wir sind alle sehr eigensinnig. Wir sind nicht gerade sehr friedfertig, aber aus kreativer Sicht ist das gut. Eine gewisse Reibung kann nur gut sein. Wir kämpfen gemeinsam um die gute Sache. Wir wollen was Großartiges schaffen. Es ist also ein positiver Kampf der Geister. Es beweist eben, dass wir das, was wir tun lieben. Und dass wir leidenschaftlich dabei sind."
    "To belong" - Album "Not to disappear"
    Beim 4AD-Label unter Vertrag
    Daughter ist beim renommierten 4AD-Label unter Vertrag. 4AD gibt es seit 1979 und das Label wurde vor allem für stark atmosphärische Bands bekannt: Künstler wie Cocteau Twins, Dead can Dance und das Kollektiv This Mortal Coil. Daughter passt zu 4AD wie die Faust aufs Auge.
    "Es war sehr aufregend, weil wir alle große Fans des 4AD-Labels sind. Bei diesem Label zu landen, ist schon eine Ehre, aber wir stehen unter Druck. Wenn man bedenkt, wie viele tolle Platten bei 4AD erschienen sind, ist es umso wichtiger, dass wir keinen Haufen Müll produzieren. Das ist ein gutes Gefühl, die Pflicht zu haben, was Gutes schaffen zu müssen. Das 4AD-Erbe ist eben sehr inspirierend."
    Und nun die ebenerwähnte legendäre Band auf dem 4AD-Label:
    //Cocteau Twins: "Heaven or Las Vegas" (1990)
    Daughter bleibt der verträumt-experimentellen 4AD-Tradition treu. Sie haben zwar ein hohes Songwritingniveau, aber die Arrangements sind nicht immer konventionell.
    "Wir neigen dazu, Sound-Schichten aufeinanderzulegen, weil sie gut klingen. Und dann fällt uns ein, dass wir nur zu dritt sind. Und es stellt sich die Frage: Wie will man das Stück live umsetzen?
    Igor: "Mit digitalen Schnittsystemen ist es heutzutage so einfach geworden, die unterschiedlichsten Sachen zu machen. Wenn wir es gewollt hätten, hätten wir ohne Weiteres ein schlecht-klingendes Hip-Hop-Album machen können. Wir hätten auch ein ganzes Orchester simulieren können, das in Wirklichkeit nicht da ist. Wir gehen mit Klangexperimenten behutsam vor. Ich finde, dass Bands grundsätzlich Authentizität anstreben sollen. Das kommt aber immer seltener vor. Und wir wissen sehr wohl, wie kommerziell erfolgreich Musik sein kann, die nicht im Geringsten authentisch ist. Leute, die Musik wirklich lieben, legen Wert darauf, dass sie echt ist."
    "Numbers" - Album "Not to disappear”
    Die Musik von Daughter ist sehr gefühlsbetont, und wirkt damit gewissermaßen aus der Zeit gefallen, in einer Welt, die durch Technologie ein Stück nüchterner geworden ist.
    "Meinst du, dass wir alte Schule sind, weil es immer mehr elektronische Musik gibt? Ich denke, es ist eine Frage der Perspektive, je nachdem, wie das eigene Gehirn funktioniert. Ich kann zum Beispiel minimalistische, elektronische Musik als sehr emotional empfinden, auch, wenn es keine Liveinstrumentierung gibt. Und auch, wenn das Stück eher monoton und schlicht ist. Ich greife selbst instinktiv zur Gitarre. Das ist das Instrument, das von Anfang an mein Werkzeug war. Es kann aber schon praktisch sein, in einem Hotelzimmer mit seinem Laptop an Musik zu basteln. Wenn es darum geht, Kunst zu schaffen, die wir lieben, sind wir, was die fortschreitende Technologie betrifft, weder pro noch contra. Ich mache mir keine Sorgen, dass Gitarrenmusik aussterben könnte. Es wird immer Leute geben, die Gitarrenmusik machen. Es wird immer Menschen geben, die Musik für Orchester komponieren. Das ist einfach so."
    Sowie Daughter düstere Gitarrensongs mit sanften elektronischen Klängen verbinden, ist die Band für Freunde der mysteriösen und geheimnisvollen Popmusik perfekt geeignet. Modern aber traditionsbewusst, herausfordernd aber doch angenehm für das Ohr.
    "How" - Album "Not to disappear”
    Diese Sendung können Sie nach Ausstrahlung sieben Tage online nachhören.