Freitag, 19. April 2024

Archiv


Indien auf der Überholspur

Geophysik. – Indien ist unter den irdischen Kontinenten Geschwindigkeitsmeister. Mit immerhin 15 bis 20 Zentimetern pro Jahr war die Kontinentalplatte zeitweise unterwegs. Für menschliche Maßstäbe ist das langsam, aber für die der Plattentektonik Allzeitrekord. Nun können die Geologen vielleicht erklären, warum der Subkontinent ein so hohes Tempo vorgelegt hat. In der neuen "Nature" beschreiben Wissenschaftler des Geoforschungszentrums Potsdam, wie es gegangen sein mag.

Von Dagmar Röhrlich | 18.10.2007
    Rund fünfzig Millionen Jahre ist es her: Damals ereignete sich ein gewaltiger Crash: Auf seinem Weg nach Nordosten rammte Indien mit voller Wucht Eurasien – und wie bei einem Autounfall gab es eine Knautschzone: den Himalaja, das höchste Gebirge der Erde. Dass die Kollision mit einer solchen Wucht erfolgte, hat nicht nur etwas mit der schieren Größe Indiens zu tun, sondern auch mit seiner Rekordgeschwindigkeit, erklärt Rainer Kind vom Geoforschungszentrum Potsdam GFZ:

    "Indien ist der Kontinent, der sich mit der größten Geschwindigkeit von allen Kontinenten bewegt hat. Die Geschwindigkeit ist 20 Zentimeter pro Jahr. Das erscheint uns natürlich sehr klein, ist aber für einen ganzen Kontinent sehr groß. Europa zum Beispiel gegenwärtig bewegt sich mit zwei bis drei Zentimetern in Richtung Nord-Nordosten."

    Vor 140 Millionen Jahren brach der Südkontinent Gondwana auseinander – und Indien hatte es besonders eilig, wegzukommen. Die anderen Bruchstücke – wie Australien oder Afrika – waren nach dem Zerfall des "Mutterkontinents" höchstens mit fünf Zentimetern pro Jahr unterwegs, wenn sie nicht gleich – wie die Antarktis – ganz an Ort und Stelle verharrten. Um dem Grund für diese Eile zu finden, haben die Geologen des GFZ eine neue Methode entwickelt. Sie untersuchen, wie sich die Erdbebenwellen im Untergrund ausbreiten und messen damit die Dicke der Platten. Kind:

    "Wir haben diese Methode in verschiedenen Regionen der Erde angewandt, und dann auch auf den Kontinenten um den Indischen Ozean herum, die ja die Reste des ehemaligen Gondwana-Kontinents sind. Und wir haben dabei festgestellt, dass die Indische Lithosphäre nur etwa 100 Kilometer mächtig ist, während die anderen Teile des ehemaligen Gondwanalandes, Afrika, Antarktika, Australien um die 200 bis 300 Kilometer mächtig sind."

    Die Ursache dafür, dass der Indische Subkontinent mit rund 100 Kilometern Dicke so "schwindsüchtig" ist, soll ein so genannter Plume gewesen sein. Plumes, das sind eng begrenzte, pilzartige Gebilde aus ultraheißem, aber festem Gestein, die sich wie Schneidbrenner durch den Erdmantel fressen. Nahe der Oberfläche, wo der Druck nachlässt, entsteht flüssiges Magma und speist Vulkane wie beispielsweise die von Hawaii oder die der Azoren. Die ganz großen unter den Plumes stehen im dringenden Verdacht, dass sie Kontinente zerreißen können. Genau das passiert zurzeit im Ostafrikanischen Graben, und es soll auch vor 140 Millionen Jahren unter Gondwana geschehen sein. Kind:

    "Die einzelnen Teile von Gondwanaland haben sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten in verschieden Richtungen bewegt, und Indien hat wahrscheinlich die größte Portion an Hitze abbekommen."

    Denn der Plume stieg wohl unterhalb von Indien empor. Dabei schmolz er die tieferen Teile der indischen Platte einfach ab. Damit verlor Indien seine Wurzeln, die es im oberen Erdmantel verankerten. Ohne diesen Kiel konnten die Kräfte im Erdinneren Indien einfach fortdrücken, so Rainer Kind – und der Subkontinent beschleunigte immens. Kind:

    "Die anderen Kontinente hatten tiefere Wurzeln, die tiefer in den Erdmantel hineinreichten, und haben dem Schub des Plume größeren Widerstand entgegengesetzt."

    Indien bewegte sich sehr schnell nach Norden und prallte schließlich auf China – die Kollision nahm ihren Lauf und der Himalaya entstand. Das Auffalten des Gebirges hat Indien stark abgebremst. Und so ist der Subkontinent heute "nur" noch mit fünf oder sechs Zentimeter pro Jahr unterwegs.