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Indien
Gefahr der Radikalisierung in Kaschmir

Vor einem halben Jahr erkannte die indische Regierung der mehrheitlich muslimischen Region Kaschmir ihre Sonderrechte ab. Seitdem herrscht Ausnahmezustand. Das dränge insbesondere junge Männer in die Radikalisierung, beobachten Kaschmirer - und befördere eine Hinwendung an das angrenzende Pakistan.

Von Antje Stiebitz | 11.01.2020
Ein Soldat einer indischen Paramilitär-Einheit in Srinagar im Bundesstaat Jammu und Kaschmir
Paramilitärs kontrollieren die Straßen in Srinagar im indischen Bundesstaat Kaschmir (Imago/Idrees Abbas)
Sheikh Shokat Hussein ist Professor für internationales Recht und Menschenrechte und unterrichtet an der Kaschmir Universität in Srinagar. Da die indische Regierung ausländische Journalisten derzeit nicht nach Kaschmir einreisen lässt, kommt man nur auf Umwegen an Informationen aus erster Hand.
"Wenn die indische Regierung behauptet, dass die Bevölkerung Kaschmirs glücklich mit ihr ist, dann fragt man sich doch: Warum muss die Regierung dann jegliche Kommunikation unterbinden?", sagt Sheikh Showkat Hussein. "Warum muss sie die Führungsriege Kaschmirs ins Gefängnis bringen? Und warum nimmt sie tausende von Menschen fest und bringt sie an entlegene Orte?"
Die Bevölkerung Kaschmirs, so Sheikh Showkat Hussein, sei nicht nur von der indischen Regierung enttäuscht, sondern auch von der Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft. Der Menschenrechtler beobachtet, dass sich viele Kaschmirer zunehmend radikalisieren: "Wenn sich die Menschen erst einmal betrogen fühlen, werden sie anfällig für Extremismus und werden von radikalen Gruppen ausgenutzt."
Indische Soldaten vor dem Freitagsgebet in Jammu im Bundesstaat Jammu und Kaschmir.
Pulverfass Kaschmir
Kaschmir ist eine der weltweit am stärksten militarisierten Regionen. Jetzt könnte die Lage wieder eskalieren. Ein Blick in die Geschichte zeigt, woran sich die Spannungen zwischen den beiden Erzrivalen Indien und Pakistan entzünden.
Sonderstatus und Volksabstimmung
Yasin Mir sitzt auf dem Rasen vor dem Nehru-Museum in Neu-Delhi. Der IT-Auszubildende stammt aus Kaschmir, ist Muslim und möchte im Radio nur mit Pseudonym genannt werden. Für junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren, davon ist Yasin Mir überzeugt, sei der Ausnahmezustand besonders schwierig, weil ihre Ausbildung Schaden nehme. Was passiert, wenn das Militär die bestehenden Restriktionen lockert und sich die Kaschmiris wieder ungehindert bewegen können?
"Wenn die Menschen diesen Schock erst einmal überwunden haben, dann werden wir Proteste und Tötungen erleben. In den kommenden Monaten wird die Situation im Kaschmir-Tal nicht friedlich sein. Die Menschen werden gewalttätiger sein als vorher."
Die indische Armee dränge insbesondere junge Männer in die Radikalisierung, erklärt Yasin Mir. Die Kaschmirer fühlten sich von Indien entfremdet, weil das Militär sie belästige, beschäme und foltere. Aus seiner Sicht sollte die indische Regierung die Kaschmirer endlich fragen, was sie sich vorstellen:
"Uns wurde von Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister Indiens, versprochen, dass wir die Freiheit haben würden zu entscheiden, ob wir mit Pakistan oder mit Indien leben wollen. Das wurde Volksabstimmung genannt. Dazu ist es bislang nicht gekommen. Aber die Menschen fordern dieses Recht ein."
Indien brachte die Kaschmir-Frage 1948 vor die Vereinten Nationen. Und der UN-Sicherheitsrat forderte eine Volksabstimmung für die Kaschmirer. Doch dazu kam es nie. Bislang räumte die indische Verfassung dem mehrheitlich muslimischen Kaschmir durch den Artikel 370 einen Sonderstatus ein. Diese Sonderrechte wurden Kaschmir von der indischen Regierung jedoch am 5. August 2019 aberkannt.
Diskriminierung in Kaschmir
Das Hauptquartier der Regierungspartei BJP. In einem der unzähligen Zimmer sitzt der BJP-Generalsekretär, Murlidhar Rao, hinter seinem Schreibtisch. Genau wie der IT-Auszubildende Yasin Mir, beruft auch er sich auf den ersten Premierminister Indiens, wenn es um den Artikel 370 geht:
"Als der Artikel 370 in die Verfassung aufgenommen wurde, versprach der damalige Premierminister Jawaharlal Nehru dem ganzen Land und seinen Bewohnern, dass dieser Artikel zeitlich begrenzt ist und nicht für ewig bestehen wird."
Aus Raos Sicht hat der Artikel 370 die Integration der Menschen aus dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir in Indien verhindert. Ginge es nach dem Willen des Politikers, hätte der Artikel schon vor langer Zeit gestrichen werden müssen. Vieles in Kaschmir sei aufgrund des Autonomiestatus' rückständig gewesen und werde nun an indische Standards angeglichen. Bislang habe es dort etwa im öffentlichen Dienst keine Quoten für benachteiligte Kasten gegeben, wie das in allen anderen Bundesstaaten der Fall ist. Außerdem haben Frauen ihre Bürgerrechte verloren, wenn sie einen Mann heirateten, der nicht aus Jammu und Kaschmir stammt. Solche sozialen Diskriminierungen seien jetzt abgeschafft. Und Firmen, die in Jammu und Kaschmir investieren wollten, könnten endlich Land kaufen.
"Man muss verstehen, dass das Problem in Jammu-Kaschmir nichts mit der Abschaffung des Artikels 370 zu hat. Wir haben in Kaschmir ein Problem, weil es Gewalt gibt, die von Pakistan gefördert wird."
Orientierung in Richtung Pakistan
Bis Mitte der 1980er-Jahre sei die Bevölkerung Kaschmirs pluralistisch und tolerant gewesen, so sieht es selbst mancher muslimische Beobachter aus Kaschmir. Doch danach sei eine schleichende Islamisierung und Radikalisierung spürbar geworden. Schuld daran seien die Mullahs, die islamischen Kleriker Kaschmirs. Unter ihrem Einfluss habe sich Kaschmir zu einer homogenen Gesellschaft entwickelt, in der nicht mehr verschiedene Religionen konkurrieren, sondern verschiedene islamische Gruppierungen. Das Handeln der indischen Armee sei die Antwort auf die importierten Kämpfer aus Pakistan, so die Argumentation.
Die indische Journalistin Sonia Sarkar bereitet Kaffee zu. Sie lebt in einer Hochhaussiedlung in Noida. Die 38-Jährige berichtet seit mehr als einem Jahrzehnt über Kaschmir. In den letzten Jahren habe sie Kaschmirer oft über Selbstbestimmung sprechen hören, sagt die Journalistin. Doch kaum einer wollte zu Pakistan gehören. Seit dem 5. August allerdings werde der pakistanische Premierminister Imran Khan vor allem in den sozialen Medien als Held gefeiert: "Sie denken, dass Pakistan der einzige Retter der Kaschmirer ist. Und das sollte Indien zu denken geben."