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Indien
Ohne Wasser keine Entwicklung

Indien leidet unter der größten Wasserkrise in der Geschichte des Landes. Einem Regierungsbericht zufolge haben rund 600 Millionen Menschen keinen oder erschwerten Zugang zu sauberem Trinkwasser. Das hat weitreichende Folgen für die Gesellschaft.

Von Bernd Musch-Borowska | 23.06.2018
    Ein indisches Mädchen füllt einen Krug mit Trinkwasser aus einem Tankwagen im Slum Rasoolpura in Hyderabad
    Wo es kein Trinkwasser aus der Leitung gibt, sind die Menschen in Indien damit beschäftigt, Wasser von Tankwagen oder Brunnen zu holen - auch die Kinder (AFP/ Noah Seelam)
    Der Tankwagen mit dem Trinkwasser kommt – endlich. Ein großes Ereignis für die Bewohner der Siedlung Kusumpur Pahari. Eigentlich würde man sagen Slum, denn dieser Stadtteil von Delhi ist nicht an das Wasserleitungsnetz der indischen Hauptstadt angeschlossen und auch nicht an die Kanalisation. Einmal in der Woche bekommen die Menschen, die hier leben, Trinkwasser geliefert.
    Vijay Kumar ist in dem Viertel für die gerechte Verteilung des kostbaren Wassers zuständig: "Langsam, langsam - jeder kommt dran. Mach Platz da, Du hast Dein Wasser doch schon bekommen." Streit gebe es fast immer, sagt er: "Jeder will zuerst dran kommen. Aber auf mich hören sie. Wenn nicht, dann drohe ich einfach damit, dass ich das Wasser abstelle und schon ist Ruhe."
    Eigentlich hätte der Tankwagen schon einen Tag früher kommen sollen. Wer keine Trinkwasser-Reserven angelegt hatte, saß auf dem Trocknen.
    "Seit gestern früh warten wir auf den Tanklastwagen und solange stehen hier unsere Kanister in der Schlange. Normalerweise habe ich immer eine Reserve zu Hause, falls der Tankwagen mal nicht kommt. Denn dann hat man wirklich ein Problem."
    Bewohner in Neu Delhis Stadtteil Sanjay Camp holen mit Eimern und Plastikkanistern Wasser von einem Tankwagen
    In manchen Stadtteilen Neu Delhis bekommen die Menschen Trinkwasser nur aus dem Tankwagen (AFP/ Dominique Faget)
    Wenn das Wasser kommt, gehen die Kinder nicht zur Schule
    Das kostbare Trinkwasser wird in große verschließbare Kanister abgefüllt, aber auch in Eimer und Schüsseln, die sofort in die Häuser getragen werden. Jeder muss mit anpacken, auch die Kinder:
    "Alleine kann ich das Wasser gar nicht nach Hause tragen. Da müssen die Kinder mithelfen. Jetzt sind gerade Ferien, aber sonst nehme ich sie an dem Tag, an dem das Wasser geliefert wird, aus der Schule. Wir brauchen doch das Trinkwasser."
    Nicht weit entfernt von hier liegen die besseren Stadtteile Delhis, wo die reichen Leute wohnen, die täglich ausgiebig duschen können, luxuriöse Badezimmer haben und auch genug Geld, um Trinkwasser in Flaschen kaufen zu können. Die Einwohner von Kusumpur Pahari haben nicht mal eine Toilette.
    "Da ganz weit draußen haben sie Plumpsklos für uns gebaut. Aber wie sollen wir denn dorthin kommen? Vor allem wir Frauen und die Mädchen, so ganz alleine? Wir Frauen gehen alle zusammen dort aufs Feld hinter die Büsche, morgens um fünf Uhr und dann den ganzen Tag nicht mehr."
    Und das ist die indische Hauptstadt; auf dem Land ist die Lage vielerorts noch schlimmer. Wasser ist knapp. Indien leidet derzeit unter der größten Wasserkrise der Geschichte des Landes. Einem Regierungsbericht zufolge sind 600 Millionen Inder - etwa die Hälfte der Bevölkerung - von extremem Wassermangel betroffen. Schon in zwei Jahren werden mehr als 20 Großstädte kein Grundwasser mehr haben, heißt es weiter in dem Bericht, der jetzt vorgelegt wurde. Bereits im Jahr 2030 hätten demnach etwa 40 Prozent der indischen Bevölkerung keinen Zugang mehr zu Trinkwasser.
    Schlechtes Wasser-Management
    Ein Grund sei das schlechte Wasser-Management, meinten die Experten einer Diskussionsrunde im indischen Fernsehen. Für den ständig steigenden Wasserbedarf infolge des Bevölkerungswachstums gebe es keinen Plan, sagte der angesehene Wirtschaftswissenschaftler Nitin Desai, der einst für Indien bei den Vereinten Nationen tätig war:
    "Wir müssen unseren Grundwasserbestand besser dokumentieren und verwalten. Wir lassen es zu, dass die Bauern Grundwasser abzapfen, obwohl sie damit anderen das Wasser wegnehmen. Und dann unsere Flüsse. Alle großen Flüsse in Indien fließen durch mehrere Bundesstaaten. Und ständig gibt es Streit um das Wasser. Dabei ist sogar in der Verfassung festgelegt, dass das Wasser allen gehört und nicht nur dem Bundesstaat, durch den der Fluss gerade fließt."
    Der indische Wirtschaftswissenschaftler Nitin Desai
    Der indische Wirtschaftswissenschaftler Nitin Desai (AFP/ Louisa Gouliamaki)
    Wasserverteilung wird zum Politikum
    Delhi bekommt sein Wasser vor allem aus den beiden heiligen Flüssen Ganges und Yamuna, die durch die benachbarten Bundesstaaten Haryana und Uttar Pradesh fließen. Wie die Tageszeitung "The Hindu" berichtete, hat der Regierungschef von Haryana im Norden Delhis zugesagt, mehr Wasser in die Hauptstadt fließen zu lassen, obwohl es in Teilen seines Bundesstaates auch Wasserknappheit gibt. Delhi müsse dafür aber alle Umweltklagen gegen Haryana vor dem Obersten Gericht zurückziehen.
    Delhi klagt unter anderem wegen der Luftverschmutzung, denn die Bauern in Haryana und anderen Nachbar-Bundesstaaten brennen in den Wintermonaten ihre Felder ab und die Einwohner von Delhi können vor lauter Rauch und Smog kaum noch atmen. Die gerechte Verteilung der lebenswichtigen Ressource Wasser wird so zu einem Politikum.
    Auch Bildung und Gesundheit hängen vom Wasser ab
    Das Wasserproblem müsse dringend gelöst werden, meint Nitin Desai, denn damit seien zahlreiche andere gesellschaftliche Probleme in Indien verbunden:
    "Das Wasser ist eine strategisch wichtige Ressource für die Entwicklung des Landes, für die Bereiche Gesundheit und auch für die Bildung. Man sieht, dass überall dort, wo Wasser auch auf dem Land verfügbar gemacht wird, plötzlich auch mehr Mädchen zur Schule gehen, weil sie nicht mehr zu Hause bleiben müssen, um Wasser zu holen."
    Gerade auf dem Land ist die Wasserkrise besonders stark spürbar. In dem Dorf Dindori, in Madhya Pradesh, in Zentralindien, riskieren Frauen und Mädchen täglich ihr Leben, um Wasser für ihre Familien aus einem Brunnen zu holen. Ohne Sicherung klettern sie die Mauer des fast zehn Meter tiefen Brunnens hinab, um unten Wasser zu schöpfen. Danach werden die Blecheimer hochgezogen. Immer wieder kommt es zu Unfällen. Entweder fällt ein schwerer Eimer runter oder eines der Mädchen stürzt von der Brunnenwand in die Tiefe.
    Doch es ist nicht nur das schlechte Wasser-Management. Indien gehört auch zu den Ländern, die die Auswirkungen des Klimawandels am meisten spüren. Die Niederschläge in der Regenzeit werden spürbar weniger, in der Folge nehmen die Wasservorräte stetig ab.