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Indien will trotz Klimawandel mehr Treibhausgase ausstoßen

Indiens wirtschaftlicher Aufschwung wird unter anderem begrenzt von einem permanenten Mangel an Energie. Und auch Indien bekommt den Treibhauseffekt bereits zu spüren. Doch der Kampf gegen den Klimawandel gehört nicht zu den Aufgaben, die im Land selbst als besonders dringlich angesehen werden.

Von Rainer Hörig | 31.08.2006
    Der Klimawandel ist in Indien kein Gesprächsthema. Die Mehrheit der Bevölkerung sorgt sich um den Lebensunterhalt für den nächsten Tag, hat keine Zeit für düstere Zukunftsprognosen. Aber Indien ist Heimat eines Sechstels der Menschheit. Das riesige Land hat die höchsten Berge der Welt, umfasst Wüsten und Sümpfe, ausgedehnte Steppenlandschaften und eine rund 7000 km lange Küste.

    Aufgrund seiner instabilen Topographie und Hunderter von Millionen Menschen, die am Rande des Existenzminimums überleben, ist Indien in vielfältiger Weise verwundbar. Und der Klimawandel wirft hier bereits Schatten, sagt der Wissenschaftler Rajendra Pachauri, Chef eines Öko-Instituts in New Delhi und Vorsitzender des internationalen Expertengremiums zum Klimawandel IPCC, das die UNO und die Regierungen der Welt berät:

    "Die Gletscher zum Beispiel, sie sind auf dem Rückzug. Das heißt, sie schmelzen viel schneller ab als in früheren Jahrhunderten. Wir haben Probleme in der Landwirtschaft, weil die Niederschlagsparameter sich ändern. Bedenken Sie: Eine große Anzahl von Bauern sind nach wie vor auf zuverlässige Regenfälle angewiesen. Und natürlich haben wir eine lange Küste, daher machen wir uns große Sorgen um den Anstieg des Meeresspiegels. "

    Historisch betrachtet liege die Verantwortung für die Verschmutzung der Erdatmosphäre bei den westlichen Ländern, die seit der Industrialisierung viel Kohle und Erdöl verbrennen, gibt Pachauri zu Bedenken. Ein Beispiel: Achtzig Millionen Deutsche verursachen fast ebenso viele klimaschädliche Emissionen wie eine Milliarde Inder. Aus indischer Sicht stehen daher die Industrieländer in der Verantwortung, den Kollaps des Klimas zu verhindern. Dr. Pachauri:

    "Ich glaube, die müssen ihre Emissionen senken. Wir dagegen sollten unsere Emissionen steigern können, denn das ist nötig, um die Armut zu vertreiben und Entwicklungschancen zu schaffen."

    Indiens Wirtschaft boomt. Nach dem Willen der Regierung soll sie um zehn Prozent jährlich weiter wachsen. Höhere Schadstoff-Emissionen sind da unvermeidlich. Forderungen westlicher Politiker und Umweltschützer, Indien müsse sich auf messbare Reduktionen verpflichten, stoßen hier auf Unverständnis. Sunita Narain etwa, die als Leiterin des Öko-Instituts "Centre for Science and Environment" die weltweite Klima-Debatte in internationalen Gremien und in den Medien begleitet, ist empört:

    "Warum sollten Indien, China oder Brasilien Verpflichtungen eingehen? Indien, China und Brasilien werden ganz sicher mehr Energie verbrauchen, werden bestimmt die Atmosphäre verschmutzen und noch mehr klimaschädliche Gase ausstoßen. Aber all das war auch schon in den Neunziger Jahren bekannt, und daher einigte man sich darauf, dass etwa Europa seine Emissionen reduziert, damit wir unsere steigern können. Das verlangt die weltweite Gerechtigkeit. Wir kamen überein, dass Europa, Amerika, Australien und Japan ihre Verschmutzerrechte überschritten haben. Und dass wir den ökologischen Freiraum benötigen, damit auch wir verschmutzen dürfen. Wir haben unser Recht zum Verschmutzen im wahrsten Sinne des Wortes eingeklagt, wenn man es krass ausdrücken will."

    Sunita Narains Worte zeugen von leidenschaftlichem Engagement, sie sollen provozieren. Narain verteidigt aber einen nationalen Konsens: Indien habe wie alle anderen Länder das Recht auf wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand. Indien, China und Brasilien würden schon in naher Zukunft ihre klimaschädlichen Emissionen rapide steigern. Damit das Weltklima nicht vollends aus den Fugen gerate, müssten die wohlhabenden Industrieländer, die seit Jahrzehnten die ihnen zustehenden Verschmutzungsrechte weit überschreiten, ihre Emissionen nun erheblich reduzieren, falls nötig auch durch Änderungen der Lebensführung. Doch die Reichen haben versagt, konstatiert Rajendra Pachauri:

    "Die Industrieländer haben nicht genug getan. Offen gesagt hat das den Verdacht genährt, die entwickelten Länder hätten kein Interesse am Klimaschutz. Einige Politiker dort sagten sogar, für sie kämen Änderungen im Lebensstil gar nicht in Frage. Das führt ganz klar zum Schluss, dass die Last des Klimawandels von den sich entwickelnden Ländern getragen werden solle. Aber das ist etwas, das die Länder des Südens auf keinen Fall akzeptieren können."