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Indisches Parlament
Brüllattacken, Handgreiflichkeiten und Pfefferspray

Indien gilt als die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt. Trotzdem arbeiten 90 Prozent aller Erwerbstätigen als Tagelöhner, liegt die Dauer des Schulbesuchs im Durchschnitt bei unter fünf Jahren und leiden hier so viele Kinder unter Hunger wie in keinem anderen Land. Da ist es nicht hilfreich, wenn sich die Parteien im indischen Parlament gegenseitig blockieren.

Von Sandra Petersmann | 02.07.2016
    Männer in Indien warten auf Arbeit
    90 Prozent aller erwerbstätigen Menschen arbeiten in Indien ohne Vertrag und soziale Sicherheit, viele als Tagelöhner (Jürgen Webermann / ARD Studio Delhi)
    Ein ganz normaler Sitzungstag im indischen Parlament. Alle schreien. Keiner hört dem anderen zu. Entschieden? Wird fast nichts.
    Das Parlament hat in der letzten Legislaturperiode zwischen 2009 und 2014 rund 40 Prozent seiner Sitzungszeit verschwendet: Für Brüllattacken, Handgreiflichkeiten, und einmal kam sogar Pfefferspray zum Einsatz, erinnert sich Shashi Tharoor von der Indischen Kongress-Partei. Er gehörte damals als Minister der Regierung an, heute sitzt er als Abgeordneter auf der harten Oppositionsbank.
    "Das war eine sehr frustrierende Zeit, in der die Opposition sich offenbar dazu entschlossen hatte, nur zu stören und nicht zu debattieren. Sitzung für Sitzung. Tag für Tag. Woche für Woche. Unterbrochen und vertagt. Dann wurde aus der Opposition die Regierung und aus der Regierung die Opposition. Und die jetzige Opposition scheint nach der goldenen Regel zu verfahren: Tue den anderen an, was sie dir angetan haben."
    2014 jagten die Wähler Shashi Tharoors sozialdemokratische Kongress-Partei nach 10 Jahren aus der Regierungsverantwortung. Es gab zu viel Stillstand und zu viele Korruptionsskandale. Seitdem ist die konservativ-religiöse Hindu-Partei BJP an der Macht. Meenakshi Lekhi ist die Sprecherin der BJP und neu im Parlament.
    "Ein bisschen Chaos und Lärm gehören zu Indien"
    "Welchen anderen Ort auf dieser Welt kannst du mit der indischen Demokratie vergleichen? Keinen! Wir könnten nur mit China verglichen werden, aber China ist keine Demokratie. Unser Parlament repräsentiert die Demokratie eines riesigen Landes, das mehr als 1,2 Milliarden Menschen unter einem Dach vereint. Alle reden immer über Vielfalt, hier bei uns wird sie sichtbar. Unsere Nation, unsere Demokratie und unser Parlament sind großartig. Ein bisschen Chaos und Lärm gehören zu Indien, damit musst du leben."
    Der Lärm im Parlament verhindert wichtige Entscheidungen. Dabei gibt es so viel zu tun: Die Hälfte ist schon heute jünger als 25 Jahre. Jedes Jahr strömen bis zu 12 Millionen junge Menschen auf den Arbeitsmarkt. Viele sind kaum gebildet. Die Dauer des Schulbesuchs liegt im Landesdurchschnitt noch immer bei unter fünf Jahren. Der Abgeordnete Shashi Tharoor spricht von einer tickenden sozialen Zeitbombe.
    "Die Bildungsfrage ist für mich nicht nur eine wirtschaftliche und soziale Frage, sondern auch eine Frage der nationalen Sicherheit. Wir erleben linksextreme, maoistische Gewalt in 165 unserer 625 Distrikte. Diese Maoisten sind vor allem junge, ungebildete oder nur wenig gebildete, arbeitslose Männer, die keine Perspektive sehen und keine Chance auf Teilhabe haben. Sie sind verwundbar, wenn ihnen jemand ein bisschen Geld und eine Kalaschnikow anbietet."
    Fast 90 Prozent aller erwerbstätigen Menschen arbeiten ohne Vertrag und soziale Sicherheit. Viele als Tagelöhner, vor allem in der Landwirtschaft oder auf Baustellen. Zeitgleich ist Indien zurzeit mit einer Wachstumsrate von 7,6 Prozent die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt. Doch es entstehen trotz dieser Wachstumsrate kaum neue Arbeitsplätze. Meenakshi Lekhi verkauft Indiens Entwicklung trotzdem als Erfolgsgeschichte.
    "Wir wissen um unsere Jugend. Wir sind glücklich, dass wir ihnen etwas anbieten können. Unser Fokus auf den Bau neuer Bahntrassen, neuer Häfen, neuer Wasserwege und Straßen wird neue Arbeitsplätze schaffen. Das gilt auch für unsere Kampagnen "Digital India" und "Make in India". Wir wussten um die Herausforderung, und die ist nicht plötzlich weggeschmolzen.
    Soziale Kluft könnte ausländische Investoren abschrecken
    Aber wir wissen auch um das unglaubliche Potenzial dieses Landes. Wir sind eine Demokratie. Wir sind eine tolerante Nation. Wir sind ein Land, in dem Ethik und Moral wichtig sind. Wir halten unsere Vielfalt aus. Und wenn du als Demokratie den Vorteil einer sehr jungen Bevölkerung hast, und es im Ausland Nachfrage gibt, dann ist das ein Segen für dich."
    Die BJP-Politikerin glaubt fest daran, dass Indien China als Produktionsstandort für westliche Unternehmen ablösen wird. Meenakshi Lekhi verweist selbstbewusst auf die steigenden Direktinvestitionen aus dem Ausland. Shashi Tharoor von der Opposition befürchtet, dass die wachsende Kluft zwischen sehr arm und sehr reich zu mehr sozialen Spannungen führen wird, was ausländische Investoren abschrecken könnte. In keinem anderen Land leiden mehr Kinder unter Hunger und unter chronischer Mangelernährung, die ihre Entwicklung hemmt.
    "Die Kombination aus Bildung und Arbeitslosigkeit ist die größte Herausforderung für Indien. Die Demokratie als fundamentaler Grundsatz der indischen Politik ist sicher. Aber die Bedrohung der Demokratie kann zunehmen, wenn die Enttäuschung zunimmt."
    Auch in der neuen Legislaturperiode ist das Parlament blockiert. Noch immer enden viel zu viele Debatten in Geschrei. Bis zur nächsten Unterbrechung. Bis zur nächsten Vertagung. Entschieden? Wird zu wenig.