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Industrie
Die Empörung der Bergleute

Als der Bergbau und die Schwerindustrie in Europa zurückgingen, brachten die Nachrichten jahrelang fast täglich Meldungen aus der Montanindustrie, sei es von Firmenschließungen, sei es von Arbeitsniederlegungen, Streiks und Unruhen.

Von Cajo Kutzbach | 05.02.2015
    Das Gelände des Bergwerks Nordschacht in Falscheid.
    Das Bergwerk Nordschacht in Falscheid war bis 2012 in Betrieb. (imago / Becker&Bredel)
    2005, also noch vor der Finanzkrise von 2008, entstand die Idee für den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereich, der sich mit "Bedrohten Ordnungen - Gesellschaften unter Druck" beschäftigen sollte und inzwischen große Aktualität bekam. Ein Teilprojekt befasst sich mit "Aufruhr in der Montanindustrie". Das Ende des Bergbaues und von Teilen der Schwerindustrie erschütterte Europa in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Man kann also noch Zeitzeugen befragen und erkunden, weshalb mancherorts Streiks zu Aufruhr führten und andernorts nicht.
    Blütezeit des Bergbaus ist vorbei
    Im Wald von Acomb in Nordengland findet man abgesperrte Eingänge zu ehemaligen Minen. Im nahen Flüsschen Tyne sind noch Pfeiler einer Eisenbahnbrücke erkennbar und der Pub auf der Hauptstraße heißt heute noch "The Miners", was man mit "Kneipe der Kumpels" übersetzen kann. Solche Spuren des Bergbaus findet man in Nordengland und Schottland noch häufig, obwohl die Blütezeit dort, genau, wie in vielen anderen Montanregionen Europas, längst vorbei ist. Erst Kohlengruben ermöglichten die umfangreiche Eisen- und Stahlproduktion. Die führte zur Eisenbahn und zum Eifelturm, aber auch zu starken Gewerkschaften in den zwangsläufig ziemlich großen Betrieben.
    Als der Kohlebergbau nach einer Blütezeit in der Mitte des 20. Jahrhundert zurückging, gab es in vielen europäischen Revieren Unruhen.
    Professor Jim Philipps leitet an der Universität Glasgow das Fachgebiet Wirtschafts- und Sozialgeschichte und ist Mitglied der Schottischen Gesellschaft für Arbeitergeschichte:
    Streik der Kumpels
    "Der Streik der Kumpels von 1984/85 in Schottland, war Teil eines größeren Streiks, der gleichzeitig auch in England stattfand. Sie verteidigten die Kohlenminen, die wirtschaftliche Grundlage ihrer Gemeinden. Er wurde von Frauen genauso geführt, wie von den Männern. Sie versuchten damit ihr Einkommen, ihre Arbeitsplätze, ihre Grube zu schützen, aber auch ihre "Moralische Ökonomie", die ihr Leben bestimmte, ihre Fähigkeit Einfluss zu nehmen bei Entscheidungen über Industrie und Gruben. Darum ging's bei dem Streik aus ihrer Sicht."
    Der Begriff "Moralische Ökonomie" bezeichnet ein Wirtschaften, bei dem moralische Aspekte wichtig sind, etwa gegenseitige Unterstützung. Er wurde 1971 vom englischen Sozialhistoriker Edward Palmer Thompson geprägt. Bergarbeiter hatten ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und waren zum großen Teil gewerkschaftlich organisiert. Das war der konservativen Regierung in London ein Dorn im Auge. Der englischen Regierung ging es darum die Macht der Gewerkschaften in Gesellschaft und Wirtschaft zu brechen und ihren Einfluss auf Entscheidungen zu beseitigen.
    Dabei half, dass der nordbritische Bergbau in den 40er Jahren verstaatlicht worden war. Zunächst begann der Rückgang der Kohleförderung verhältnismäßig harmlos.
    "Ab den 1950 Jahren sank die Beschäftigung in den Kohlengruben. In den 1960ern und 70ern wurden, für die im Bergbau verlorenen Arbeitsplätze, neue geschaffen, oft durch Ansiedlung multinationaler Firmen, die Computer, Kleidung, oder Anderes herstellten. Kumpels, die die Gruben verließen, fanden andere Arbeitsplätze. Ihre Frauen bekamen neue Arbeitsmöglichkeiten, die sie zuvor nicht hatten."
    Dass es 1984 zu einem rund einjährigen Arbeitskampf kam, lag auch daran, dass sich in den 80er Jahren der Verlust der Industrie-Arbeitsplätze rapide beschleunigte. Es gab keine nennenswerten Einkommensquellen mehr für die Kumpels und ihre Familien.
    Faktor der Empörung
    In nur 30 Jahren sank die Zahl der im Bergbau Beschäftigten von 81.000 auf 6.000. Die Kumpels waren wütend, dass sie nun, nach Generationen-langem Schuften im Bergbau, nicht mehr gebraucht wurden und sie ihre Arbeit, ihre Gemeinschaft, ihren bescheidenen Wohlstand, und damit auch ihren Stolz und ihren Lebensinhalt verlieren sollten.
    Arne Hordt, von der Arbeitsgruppe "Aufruhr in der Montanindustrie" im Tübinger Sonderforschungsbereich 923 "Bedrohte Ordnungen - Gesellschaften unter Druck" sieht darin eine Gemeinsamkeit vieler Unruhen:
    "Diesen Faktor der Empörung, der dann zu spontanen Ausbrüchen von Protest führt, den finde ich überall wieder." Egal ob in Belgien, Frankreich, Nordspanien, Großbritannien, Polen, Slowenien, oder im Ruhrgebiet. Das spricht für die These, wonach auch die "kleinen Leute" Vorstellungen von "moralischem Wirtschaften" von Rechtmäßigkeit und Regeln haben, bei deren Verletzung ihnen "der Kragen platzt" und sie auf die Straße gehen. Arne Hordt:
    "Das ist die Theorie hinter diesem Begriff "Aufruhr" ja, den wir versuchen eben als wissenschaftlichen Begriff zu etablieren auch - dass es solche kleinen Änderungen sind, Verstöße gegen alltägliche Regeln und Praktiken, die es auch für den Konfliktfall gibt, denn bei Weitem nicht jeder Streik wird zum Aufruhr, sondern Streik ist geregelt. Aber wenn die Regeln für den Konfliktfall verletzt werden, dann knallt es eben besonders schnell und besonders heftig."
    Wilde Streiks, Aufruhr und Unruhen
    Ob es bei einer gesellschaftlichen Veränderung nur zu geregelten oder zu wilden Streiks, gar zu Aufruhr und Unruhen kommt, hängt dabei gar nicht so sehr vom Ausmaß der Veränderung ab, wie das Auslaufen der Kohleförderung zeigt:
    "Es ist auch nicht zum Beispiel der Strukturwandel selbst, denn in diesen ganzen schwerindustriellen Regionen in der Nachkriegszeit - gut es gibt einen Boom von "Kohle und Stahl Ende der Vierziger-, Anfang der Fünfziger-Jahre - aber ab Ende der Fünfziger-Jahre gibt es einen geplanten Rückbau. Nur ist es eben die Gegenseitigkeit, also dass Gewerkschaften, Arbeitgeber und der Staat irgendwie auch an einem Tisch sitzen auf Augenhöhe und, wenn das verletzt wird, dann kann es eben auch passieren."
    Genau dieses auf Augenhöhe miteinander die Bedingungen des Wandels Aushandeln, fand in Schottland nicht statt. Die Regierung wollte die Gewerkschaften und deren Mitglieder entmachten, nutze dafür aber den Strukturwandel der Montanindustrie.
    Dass es bei der Zerschlagung der Montanbetriebe in Großbritannien um etwas ganz Anderes ging als um billige Energie für alle Bürger, zeigen steigende Energiepreise. Es lässt sich aber auch durch Zahlen belegen. Jim Philipps:
    "Worum es wirklich ging, das war den Einfluss der Gewerkschaften zu beseitigen. Die Regierung war bereit dafür sehr viel Geld auszugeben: Ungefähr das Sechzigfache der veranschlagten Verluste des Jahres 1984."
    Mit diesen rund sechs Milliarden hätte man die Minen, für die 1984 ein Verlust von 105 Millionen erwartet wurde, noch Jahrzehnte betreiben und einen langsameren Übergang gestalten können. Statt dessen wurden diese Steuergelder eingesetzt, um den Bürgern bestehende Rechte zu entziehen. Ein konservativer Politiker nannte es später selbst: "Klassenkampf von oben".
    "Die Kohlengruben wurden sehr rasch stillgelegt. Es gab vorsichtige Versuche der britischen Regierung, einige der unmittelbaren Folgen zu gestalten; also Kumpels bekamen Geld dafür, dass sie aus dem Arbeitsmarkt ausschieden. Sie wurden dafür bezahlt, dass sie arbeitslos wurden! Und das war ein Teil der erwähnten Kosten, dass die Regierung der Labour-Opposition eine Gruppe von gewerkschaftlich organisierten und politisierten Arbeitern entzog. Sie der Politik, dem Arbeitsmarkt zu entziehen, war teuer. Aber das war es der britischen Regierung wert."
    Probleme in ganz Europa ähnlich
    Nicht wirtschaftliche Vernunft, sondern konservative Machtpolitik gegen die Linke, also Labour, war die treibende Kraft. Kein Wunder, dass dieser heftige Arbeitskampf in Großbritannien im allgemeinen Bewusstsein gegenwärtig ist, während der wilde Streik im deutschen Rheinhausen, bei dem auch die Rheinbrücken besetzt wurden, von den meisten hierzulande längst vergessen ist. Dabei waren die Probleme in ganz Europa weitgehend ähnlich, wie es Anselm Doering-Manteufel, Professor für neuere Geschichte und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte der Universität Tübingen beschreibt:
    "Das ist einmal das Auslaufen der Kohleförderung, bzw. die Kohle wird in der Form nicht mehr gebraucht und die Regionen, in denen die Bergwerke sind, da ergeben sich unglaubliche Schwierigkeiten zur Finanzierung der Kohleproduktion mit den ganzen Folgen für Entlassungen von Arbeitern und dem Zusammenbruch der Lebenswelten der dortigen Familien. Das kann man tatsächlich überall beobachten. Und das liegt ziemlich zeitgleich. Hat einen Schwerpunkt anfangs in den späten 1950er Jahren, frühen 1960er Jahren und erreicht seinen Höhepunkt und letztlich den Endpunkt in den 1980er Jahren."
    In Deutschland fuhren die letzten Dampflokomotiven in den 70er Jahren, die langen Züge voller Kohle wurden seltener, es wurden Strecken stillgelegt, die Kokereien verschwanden, in denen Stadtgas erzeugt wurde. Aber viel schlimmer dürfte für die traditions-bewussten Kumpels gewesen sein, dass ihre Kinder nicht mehr, wie sie selbst, ihre Eltern und Großeltern im Bergbau arbeiteten, sondern andere Wege gehen mussten. Anselm Doering-Manteufel:
    "Um diese Zeit fangen auch die Kinder aus diesen Arbeiterfamilien an nicht mehr in den Beruf der Eltern einzutreten, sondern eine höhere Ausbildung anzustreben und dann aus den Orten ihrer Herkunft wegzugehen. Das heißt, innerhalb der Familie ändert sich ebenfalls was. Das hat mit den Veränderungen der Montanindustrie gar nichts zu tun. Die junge Generation der 1980er Jahre, sagen wir die damals etwa 15 jährigen orientieren sich komplett anders. Und dann kommt noch dazu: Sie werden völlig anders leben, weil sie in die Revolution der Digitalisierung eingespannt sind, die die Eltern kaum mit vollziehen."
    Das bedeutete für die Gemeinden einerseits Einnahmeausfälle durch schließende Gruben und Stahlwerke, Veränderungen der Infrastruktur, etwa durch Stilllegungen und sei es "nur" von Industriegleisen, aber andererseits neue Kosten für weiterführende Schulen.
    Der politische Wandel in Polen
    Als die verzweifelten und empörten Kumpels in Rheinhausen auf die Straße gingen, hatten Politik und Gemeinde großes Verständnis für ihre Not und versuchten zu helfen, statt den wilden Streik durch das Pochen auf Gesetze anzuheizen. Das war viel klüger, als in England, lobt Jim Philipps:
    "Das Schrumpfen des Bergbaus wurde umsichtig betrieben, die Geschwindigkeit wurde dem Entstehen anderen Einkommensquellen angepasst, sodass Gemeinden, die ihre Gruben verloren, Alternativen hatten. Der Prozess der "De-Industrialisierung", wenn ich das mal so nennen darf, wurde und wird in Deutschland und Frankreich behutsam betrieben."
    Der Verlauf solchen Wandels hängt ganz entscheiden davon ab, wie sich die handelnden Gruppen verhalten. Großbritannien, Deutschland und Polen zeigen beispielhaft drei völlig verschiedene Verläufe, aber, was die Wirkungsmechanismen angeht, auch Gemeinsamkeiten.
    In Polen schien sich ein kleines Wunder zu ereignen. Prof. Paulina Codogni vom nichtöffentlichen Warschauer Collegium Civitas, das soziale und politische Studien betreibt, und vom Institut für politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften, skizziert die Ereignisse:
    "Der politische Wandel in Polen 1988/89, als es gelang, friedlich, ohne Gewalt vom Kommunismus zur Demokratie zu wechseln, war eine große Herausforderung, denn niemand, kein Einziger konnte vorhersehen, dass das geschehen könnte."
    Krise im Bergbau
    Anlass war, dass die Opposition die Wiederzulassung der Gewerkschaft Solidarność forderte, weil sie darin ein Werkzeug sah um eine langsame Entwicklung zu einem "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" zu gestalten. Sicher spielte eine Rolle, dass Michael Gorbatschow mit seiner Perestroika die Breschnjew-Doktrin abgelöst hatte und mehr Freiräume bot. Zugleich wurde Polen von der Krise im Bergbau getroffen. Paulina Codogni:
    "Aber es gab natürlich viele innere Faktoren, wie eine sich jeden Tag verschärfende Wirtschaftskrise, und die kommunistischen Machthaber begannen zu merken, dass sie die Kontrolle über die Lage verloren. Sie sahen, dass jedes Jahr weniger Leute zur Wahl gingen. Und sie beschlossen Verhandlungen mit der Opposition aufzunehmen, die in Frühjahr und Sommer 1988 zwei mal streikte."
    Laut Paulina Codogni hatte die Opposition an der Streikbeteiligung gemerkt, dass auch sie nicht so stark war, wie erhofft. So kam es zu den Gesprächen am Runden Tisch, bei denen die Kommunisten die Opposition einzubinden und damit zu neutralisieren hofften, während die Opposition mithilfe der Wiederzulassung der Gewerkschaft Solidarność hoffte die Krise meistern zu können.
    Geschwächte auf Augenhöhe
    Im Rückblick saßen sich also zwei Geschwächte auf Augenhöhe gegenüber, die verschiedene Ziele hatten, aber wussten, dass ein Fehlschlag der Gespräche zu einer unkontrollierbaren Krise führen würde. Niemand hatte einen klaren Plan, wie die Zukunft aussehen sollte, niemand erwartete einen politischen Wechsel, sondern man tastete vorsichtig vorwärts. Schließlich einigte man sich auf halbwegs demokratische Wahlen für einen Teil der Parlamentarier:
    "In der Zeit zwischen den Verhandlungen am Runden Tisch und der Wahl merkten die kommunistischen Machthaber, dass sie wirklich schwach waren. Aber sie wussten auch, dass sie nicht an den Bäumen aufgehängt würden, sondern es friedlich zugeht und ihnen kein Ungemach drohte. Das ist sehr wichtig in solchen Situationen, dass die möglichen Unterlegenen sicher sind, dass ihnen nichts passiert, denn andernfalls würden sie alles aufbieten, um an der Macht zu bleiben."
    So führte die Wahl in Polen zu einem Regierungs- und Systemwechsel, zum ersten nicht kommunistischen Land des früheren Ostblocks. Der Vergleich verschiedener Auseinandersetzungen in Bergbau und Schwerindustrie zeigte den Historikern Muster, die bestimmen, ob ein Konflikt friedlich verläuft, oder nicht. Entscheidend sind: Redlichkeit, kein Wechsel der Spielregeln im Konflikt, Verhandlungen auf Augenhöhe, der Wille eine anständige Lösung zu finden, Gewaltlosigkeit und Angstfreiheit des möglicherweise Unterliegenden. Wer Konflikte friedlich lösen will, müsste solche Regeln beachten. Arne Hordt:
    "Das würde ich auf jeden Fall so unterschreiben aber - wenn ich auch hinzufügen darf - dass es nicht die Aufgabe von Historikern sein kann direkte Politikberatung zu machen, und, was mir auch immer wichtig ist dabei: Das Ziel von unserer Forschung hier ist es nicht Rezepte für Aufruhr-Vermeidung zu geben. Wir erforschen das als Historiker."