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Infektionsschutzregelungen
Grundrechte während und nach Corona

Die Grundrechtseingriffe im Namen des Infektionsschutzes wurden in Deutschland überwiegend begrüßt. Dem Historiker René Schlott bereitet das Sorgen, er hätte mehr Abwehrreaktionen erwartet. Experten betonen aber auch: Grundrechte sind prinzipiell einschränkbar – nur die Menschenwürde nicht.

Von Andreas Beckmann | 25.06.2020
Hinweisschild an einem Laden in der Leipziger Innenstadt, dass man einen Mindestabstand von 2 Metern einhalten soll.
Abstände zu Mitmenschen zu halten, ist eine der wichtigsten Maßnahmen des Infektionsschutzes (picture alliance/dpa/Kirsten Nijhof)
"Wir werden in der politischen Debatte nach der Corona-Lage alle miteinander viel verzeihen müssen."
Ausgerechnet auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen die Pandemie deutete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn im ZDF Gewissensbisse an. Er hatte auch allen Grund dazu, meint der Potsdamer Historiker René Schlott: Mit vielen Ihrer Maßnahmen hatte die Bundesregierung Grundrechte verletzt. Angefangen mit der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, die Wochen lang außer Kraft gesetzt waren.
René Schlott: "Ich könnte noch nennen, das Grundrecht auf Asyl wurde tatsächlich eingeschränkt durch die geschlossenen Grenzen, die Reisefreiheit, ja selbst die Freizügigkeit innerhalb Bundesgebietes war ja zeitweise nicht mehr intakt, zwischen Mecklenburg und Brandenburg oder zwischen Schleswig-Holstein und Hamburg. Die Gewerbefreiheit war massiv eingeschränkt, viele konnten ihrem Beruf nicht mehr nachgehen, waren gezwungen, ihre Geschäfte oder Restaurants zu schließen."
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Alle Beiträge zum Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Für René Schlott stellen die Corona-Maßnahmen deshalb eine Art verfassungspolitischen Sündenfall dar, wie es ihn in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben hat.
"Es macht mir doch Sorge, dass wir gesehen haben: Es ist möglich, Grundrechte so massiv einschränken. Das hätte ich vorher nie für möglich gehalten. Und dass es doch zu relativ wenig Abwehrreaktionen von der Bevölkerung gekommen ist."
Grundrechte können zueinander im Widerspruch stehen
Evin Dalkilic, Redakteurin beim rechtswissenschaftlichen Internetportal "Verfassungsblog.de" beurteilt die Pandemiepolitik der Bundesregierung wesentlich entspannter:
"Grundrechte sind prinzipiell einschränkbar. Was tatsächlich unantastbar ist, ist die Menschenwürde, aber sonst sind Grundrechte einschränkbar, das ist per se auch nichts Ungewöhnliches, auch noch nichts Besorgniserregendes."
Grundrechte könnten stets in einem gewissen Widerspruch zueinanderstehen, sagt Evin Dalkilic. Im Falle von Corona das Recht auf Schutz von Leben und Gesundheit einerseits und bestimmte Freiheitsrechte andererseits. Dann müsse und dürfe die Politik abwägen, welches Recht sie wie weit einschränke. Es komme immer auf die Verhältnismäßigkeit an. Das bekräftigt auch Christian Pestalozza, Professor für Verfassungs- und Medizinrecht an der Freien Universität Berlin.
"Bei Corona geht es um den Schutz der Gesundheit, primär, und das ist sicher, da wird niemand streiten, ein legitimes Ziel, was von der Verfassung auch hochgehalten wird, ausdrücklich", sagt Pestalozza. Wenn auch in engen Grenzen dürfen Behörden daher Grundrechte einschränken.
"Das Mittel, dass ich ergreife, um mich dem Ziel zu nähern, muss geeignet sein. Ich darf also zum Schutz der Gesundheit nicht völlig abwegige Maßnahmen ergreifen, von denen jeder weiß oder annehmen kann, die seien gar nicht tauglich."
Wenn aber klar ist, dass eine Maßnahme geeignet ist, Leben zu retten, dann darf der Staat grundsätzlich Menschen sogar vorübergehend isolieren. Wenn nötig darf er dabei besonders gefährdete Gruppen wie Senioren sogar stärker einschränken als andere. Aber es muss in jedem Einzelfall wieder die Verhältnismäßigkeit geprüft werden, betont Christian Pestalozza. Etwa wenn die Gefahr droht, dass jemand ohne Kontakt zu anderen sterben müsste.
Die Corona-Warn-App mit der Seite zur Risiko-Ermittlung ist im Display eines Smartphone vor der Kuppel des Reichstags zu sehen.
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"Eine Person, die gesundheitlich beeinträchtigt ist, die sehr alt ist, die einsam ist oder sich einsam fühlt, für die ist ein solcher Eingriff, der sie isoliert, sehr viel schwerer zu ertragen. Dann kann es sein, dass diese Maßnahme, die Isolierung, geeignet und erforderlich ist, aber für diesen betroffenen Menschen unzumutbar", sagt Pestalozza.
Doch Diskussionen gerade um solche Härtefälle blieben am Anfang fast vollständig aus und werden auch jetzt noch viel zu zögerlich geführt, moniert René Schlott vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
"Das Parlament hatte sich eigentlich selbst entmachtet, hat gesagt, ja wir stellen die Notsituation nach Bundesinfektionsschutzgesetz fest, damit hatte die Exekutive erstmal freie Hand. Es gab faktisch keine Opposition mehr, es gab eine Art Burgfrieden. Alle Oppositionsparteien haben überhaupt nicht die Maßnahmen in Frage gestellt. Ähnlich war es mit der Presse, der sogenannten Vierten Gewalt. Auch die Judikative hat anfangs zu gut 100 Prozent die Maßnahmen auch juristisch gutgeheißen, wenn es Prüfungen gab, die Bürger angestoßen haben. Also es gab faktisch für einen kurzen Zeitraum in diesem Land keine Gewaltenteilung mehr", sagt Schlott.
"Wir können das Parlament nicht außer Kraft setzen", sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble.
Er war es, der Ende April die Frage aufwarf, ob der Staat wirklich alles, auch elementare Freiheitsrechte, dem Schutz des Lebens unterordnen müsse oder dürfe.
"Damit die Entscheidung des Für und Wider für die Menschen nachvollziehbar ist, braucht es eben die streitige Debatte."
Selbstauferlegte Zurückhaltung
Weder Regierung noch Behörden hatten diese Debatte verboten oder auch nur zu unterdrücken versucht. Politik und Zivilgesellschaft hielten sich aus freier Entscheidung zurück. Vermutlich aus Angst, angesichts der dramatischen Bilder aus Italien oder New York, wo die Gesundheitssysteme überlastet waren und es nicht mal mehr gelang, die Toten würdevoll zu bestatten. Da waren in Deutschland fast alle froh, wenigstens hierzulande einen funktionierenden Staat agieren zu sehen, erinnert sich der Philosoph Stefan Gosepath von der FU Berlin.
"Ich glaube, vielen Beobachtern wie mir war gar nicht klar, dass in einem normalen Gesetz wie dem Infektionsschutzgesetz so weitreichende Möglichkeiten enthalten sind für die Exekutive. Wir mussten darauf vertrauen, dass die Exekutive weise mit diesen Möglichkeiten umgeht. Ich finde, das hat sie im Großen und Ganzen gemacht, aber da fährt man ein großes Risiko, denn diese Möglichkeiten können natürlich auch ganz schnell missbraucht werden", sagt Gosepath.
Deshalb, so Stefan Gosepath, brauche es in einer solchen Ausnahmesituation eine wache Zivilgesellschaft, die prüft, ob die Regierung ihre Maßnahmen im Sinne des Gesundheitsschutzes stets gut begründen kann.
"In der ersten Rede der Bundeskanzlerin hat sie das, wie ich finde, vorbildhaft gemacht", sagt Gosepath.
Angela Merkel sagte damals: "Wir müssen das Risiko, dass der eine den anderen ansteckt, so sehr begrenzen, wie wir nur können. So retten wir Leben!"
"Von da an wurden die Maßnahmen dann häufig auf einer Pressekonferenz relativ schnell und nüchtern verkündet und es war nicht so richtig klar, was die Erklärung dafür ist", kritisiert Gosepath.
Gemeinsam mit einzelnen Ministerpräsidentinnen trat die Kanzlerin vor die Kameras, um Verschärfungen oder Lockerungen zu verkünden. Nach dem Infektionsschutz war und ist das legal, der Bund erlässt die Leitlinien, die Länder sind für deren Umsetzung zuständig. Dass die Maßnahmen aber nicht vor dem Parlament verkündet wurden, erscheint vielen Verfassungsrechtlern genauso bedenklich wie die Tatsache, dass sie nicht als Gesetze beschlossen, sondern als einfache Verordnungen erlassen wurden, die auch noch Grundrechte einschränkten. Doch ausgerechnet diese Verfahrensweise brachte die ersten öffentlichen Debatten in Gang, sagt Evin Dalkilic vom "Verfassungsblog".
"Was eine Rolle dabei spielen könnte, mag der Föderalismus sein, dass die Kompetenzen nicht so flächendeckend beim Bund lagen, so dass wir schon relativ früh gesehen haben, dass es Diskussionen gab, dass es unterschiedliche Bedürfnisse gab in unterschiedlichen Regionen, je nach wie stark ein Bundesland betroffen war oder ist", sagt Dalkilic.
Die europäische Dimension nicht vergessen
In dem daraus folgenden Streit ging es aber oft mehr weniger um rechtliche Inhalte, als darum, wie sich einzelne Länderchefs profilierten, kritisiert René Schlott:
"Was ich mir wünschen würde ist, dass es eine Untersuchungskommission gibt, die sich nochmal genau anschaut, wie wirksam waren denn bestimmte Maßnahmen, einfach im Hinblick darauf, wenn wieder eine Pandemie ausbricht, ob man diese Maßnahmen, zum Beispiel eine Grenzschließung, wieder durchführen sollte. Denn so eine Grenzschließung hat natürlich Nebenwirkungen, dass es für die europäische Einigung verheerende Folgen haben kann."
Gerade die europäische Dimension der Krise ist auch für Evin Dalkilic in der bisherigen Debatte viel zu kurz gekommen:
"Zu Beginn haben wir insbesondere nationale Maßnahmen gesehen, andererseits haben wir jetzt natürlich auch in Form der finanziellen Hilfen eine verstärkte Zusammenarbeit. Meine Vermutung ist, dass es notwendig ist, das gemeinsam zu stemmen."
Das gilt, präzisiert Evin Dalkilic, vor allem für die Bewältigung der ökonomischen Folgen des Lockdowns. Die werden, nachdem der Kollaps des Gesundheitswesens erfolgreich vermieden wurde, immer mehr in den Vordergrund treten, erwartet auch Stefan Gosepath.
"Ich bin etwas ängstlich, ob es nicht im nächsten Jahr, wenn deutlich wird, dass die wirtschaftliche Krise doch massiv ist, bin ich nicht so sicher, ob nicht doch viele Leute dann umschwenken und ihr Urteil über das Frühjahr 2020 ändern werden", sagt Gosepath.
Zerfledderte Europa Fahne im Wind
Wiederaufbaufonds - Streit um EU-Finanzhilfen in der Coronakrise
Die EU-Kommission hat ein Hilfspaket von 750 Milliarden Euro zur Bewältigung der Folgen der Coronakrise vorgeschlagen. Art und Finanzierung der Finanzhilfen sind jedoch hoch umstritten. Ein Überblick.
Noch bewertet die große Mehrheit der Bevölkerung die Corona-Politik der Bundesregierung positiv, trotz aller Einschränkungen auch von Grundrechten.
"Wir wissen nicht, ob es nicht doch eine zweite Welle gibt, und dann werden gegebenenfalls die Maßnahmen noch mal schärfer greifen müssen und es wird auch mehr Widerstand geben", sagt Gosepath.
Angela Merkel selbst hat Corona als demokratische Zumutung bezeichnet. Noch ist nicht klar, wie die Gesellschaft diese Zumutung verkraftet.