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"Inferno"

Mit seinem posthum publizierten Stück "Inferno" projizierte Peter Weiss die Hölle aus Dantes "Göttlicher Komödie" konsequent ins Oberweltliche. Die Hölle ist hier das Deutschland der Adenauer-Ära, das Land der Täter, in das Dante zurückkehrt. Stefan Klingele hat das Stück nun als Oper in Bremen inszeniert.

Von Frieder Reininghaus | 12.06.2005
    Gelächter. Party-Stimmung. Die Stadt feiert sich – eine durchaus heutige Gesellschaft taumelt durch eine Andeutung postmoderner Architektur. Transparente Planquadrate strukturieren den Raum in jeder Dimension; in der Mitte deuten konzentrisch angeordnete dünne gelbe Ringe so etwas wie einen Zeittunnel an. Diese Welt des gespielten Optimismus ist die Hölle: Ihr, die ihr eingeht, "lasst alle Zweifel fahren". Eine melodramatische Musik hilft das Niemandsland auszuloten – den Raum des aus der Antike erborgten Moderators Vergil und des namenlosen Chefs, der als Pluto und Minotaurus, auch als Unterweltbinnenschiffer Charon, als Odysseus und in weiteren Masken auftritt.

    Mit seinem erst unlängst posthum publizierten Stück projizierte Peter Weiss das "Inferno" des fernen Dante 1964 konsequent ins Oberweltlichte: Die Erinnerung an Liebe, Literatur und Leiden im frühen 14. Jahrhundert diente als Folie für die Erörterung von gesellschaftlicher Amnesie und Schriftstellernöten in der Adenauer-Ära. Durch Johannes Kalitzkes behutsame und plausible Reduktion zum Libretto fand eine weitere Übertragung statt.

    Die machte sich eine strikt konstruierte und doch von Theatererfahrung genährte Komposition zunutze – Stefan Klingele und die Bremer Philharmoniker leisten Beachtliches: Kalitzkes Partitur hatte mehr als hundert Proben erfordert. Doch das Resultat wirkt nun keineswegs komplexistisch, sondern gerade in der Dimension des Orchesterkommentars so luzide wie differenziert, dem mehrschichtigen Text wie selbstverständlich entsprungen und angemessen.

    Aus dem angeheiterten Menschenknäuel auf der Bühne war eine Figur aufgetaucht. Sie stand plötzlich wie mumifiziert auf einem Stuhl. Der hagere Mann mit Lorbeerkranz und der Kappe mit Ohrenklappen sah aus wie Dante Alighieri auf den klassischen Abbildungen. Analog zur "Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade" lässt ein improvisationsbegabtes Schauspieler-Team den Bericht von Dantes Flucht und Rückkehr aus und nach Florenz in knappen Szenen Revue passieren: Die Glaubwürdigkeit des Dichters wird in Frage gestellt und sein Idealbild Beatrice wüst demontiert; drastisch gezeigt wird die Vereinnahmung des zurückgekehrten Künstlers durch die, die ihn mit dem Tode bedrohten und vertrieben, der offiziöse Aufbau-Optimismus einer neuen Zeit und der Konformitätsdruck einer Gesellschaft, in der sich weder die Einzelnen noch das kollektive Bewusstsein an die noch nicht lange zurückliegenden Verbrechen erinnern will.

    Thematisiert werden neben der großen Anamnese auch die Fragen der Überläufer und des Verrats sowie eine Ästhetik des Widerstands im großen Verblendungszusammenhang. Die Inszenierung von David Mouchtar-Samorai präsentiert das Theater auf dem Theater ohne drastische Exaltiertheit und sorgt in der transparenten Bühneninstallation von Heinz Hauser für ein primäres Verständnis der Szenenfolge, die ja vielfältige Bezüge zur Biografie von Peter Weiss und zur Traumatisierung durch den Holocaust enthält. Auch in dieser Hinsicht – wie bezüglich der erotischen Chiffren, die durch drei vom Wind gelüftete Frauenröcke angedeutet bleiben – übt die Inszenierung Zurückhaltung: nur einmal eröffnet sie den Blick auf einen jener Duschräume, der zur Gaskammer umgerüstet wurden, und zwei bezopfte Mädchen, die ihre Oberarme vorzeigen, erinnern an die Zwillingsforschung in den Konzentrationslagern.

    Die neue Oper von Johannes Kalitzke über den Spätheimkehrer Peter Dante Weiss-Alighieri besitzt eine doppelte historische Komponente, ohne deshalb so etwas wie eine neue Historien-Oper zu sein. Es geht auch um aktuelle Bedrängnis von Künstlern und Intellektuellen. Der Tonsatz weist diskrete Anklänge an die Musik Palestrinas auf, die als Chiffre des Mittelalterlichen fungiert; die einkomponierten Satie-Zitate verschwinden vollständig in der Lineatur der Partitur, die von der Keimzelle eines zwischen Dur und Moll changierenden Akkords aus entwickelt wurde – "gewissermaßen als Kernelement des Zweideutigen", wie Kalitzke verschmitzt meinte. Die große Melancholie des Dante in der Stadt geht, der die Utopie abhanden kam, klingt schließlich und ziemlich vorsätzlich nach Brahms. Und dann kommt noch eine Pointe: Anders als Peter Weiss, bei dem der Dichter das Schlußwort behält, ordnet Kalitzke der als Phantasmagorie durch die Szenen geisternden Beatrice den letzten Satz zu: "Ich sage mich / für immer / von euch los".