Donnerstag, 28. März 2024

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Ingo Schulze zur Wiedervereinigung
"Eine Art Kolonisierung deluxe"

Der Schriftsteller Ingo Schulze hat die Wende in der DDR als euphorisches Erlebnis in Erinnerung. Man habe damals die Macht erobert - mit dem Beitritt zu Westdeutschland allerdings auch wieder abgegeben, sagte er im Dlf. Die Selbstbefreiung des Ostens sei als ein Sieg des Westens gefeiert worden.

Ingo Schulze im Gespräch mit Christine Heuer | 07.10.2019
Ingo Schulze spricht in der Berliner Akademie der Künste
Der Schriftsteller Ingo Schulze (imago-images /gezett)
Christine Heuer: 30 Jahre Mauerfall – für die Deutschen ist es das Jubiläum des Jahres mit vielen Wegmarken. Ab heute nimmt das Gedenken noch einmal an Fahrt auf, denn der 7. Oktober, das ist der 70. Jahrestag der DDR-Gründung, der 1989 zum letzten Mal gefeiert wurde. Nur zwei Tage später, am 9. Oktober, fand dann in Leipzig die möglicherweise entscheidende Demonstration gegen die Staatsführung statt – entscheidend deshalb, weil die DDR-Sicherheitskräfte entgegen vieler Befürchtungen nicht mit Gewalt reagierten, weil kein Blut floss. Ab diesem Tag, so sagen es viele Ostdeutsche bis heute, war klar, dass es kein Zurück mehr geben würde.
Über Ostdeutschland damals und heute möchte ich jetzt mit dem Schriftsteller Ingo Schulze sprechen. Geboren in Dresden, hat er Aufbruch und Wende vor 30 Jahren hautnah mitbekommen und immer wieder in den Jahren danach über die Ereignisse damals und vor allen Dingen über ihre Folgen geschrieben. Guten Morgen, Herr Schulze.
Ingo Schulze: Guten Morgen.
"Seit Gorbatschow ein Gefühl, dass der Freiraum größer wird"
Heuer: Es ist der 7. 10., 70. Jahrestag der DDR-Gründung. Wenn Sie sich heute zurückversetzen in diese Zeit, was war das im Kern für ein Lebensgefühl in der DDR?
Schulze: Das muss man wahrscheinlich doch unterteilen, über welchen Zeitraum man spricht. Die 60er-Jahre waren doch ganz anders als die 70er und dann die 80er. Gerade ab Mitte der 80er-Jahre, spätestens seit Gorbatschow gab es ja doch ein Gefühl, dass der Freiraum immer größer wird. Das kann man schon eine Art Liberalisierung nennen. Es war ja immer etwas Diktatorisches und etwas Vormundschaftliches. Und dieses Vormundschaftliche, das blieb bis zum Schluss, aber man machte doch mehr die Klappe auf und widersprach.
Heuer: Das war die bessere Zeit für Sie?
Schulze: Na ja. Je später die DDR war, desto besser wurde die Zeit, finde ich, und das kulminierte dann ja im Herbst 1989. Gerade diese Erfahrungen der Wochen und Monate von 1989 bis 1990, das war eigentlich der Höhepunkt.
Blick auf die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig
Blick auf die Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 vom Turm der Reformierten Kirche in Leipzig (transit-Verlag / Siegbert Schefke)
Heuer: Der 9. 10. – ich habe das gerade erwähnt -, die Leipzig-Demo ohne Gewalt, ohne chinesische Verhältnisse, wie es damals hieß, das war ein Wendepunkt. Sie waren dabei. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Schulze: Das war dann am Ende schon ein sehr euphorisches Erlebnis. Ich wohnte in Altenburg damals und man fuhr dann nach Leipzig und hatte aber vorher schon den Kühlschrank vollgekauft, weil man nicht wusste, wann und ob man zurückkommt. Dann war es aber eigentlich diese große Sensation, dass man laufen konnte, dass einen keiner störte. Eine Woche vorher gab es ja noch den Absperrriegel. Das war ein großes Glück und es war eigentlich auch eine sehr gute Stimmung. Diese Angst war plötzlich weg.
Heuer: Ein großes Glück, eine sehr gute Stimmung. Es ging dann ja wirklich Schlag auf Schlag und wir haben den Mauerfall erlebt. Was ist denn von diesen guten Gefühlen noch übrig bei den Ostdeutschen, 30 Jahre später?
Schulze: Oh, das ist schwer, jetzt so zu beantworten. Ich glaube, das Wichtige war ja, dass man damals die Macht erobert hatte, und dann, aus meiner Perspektive – jeder wird das ein bisschen anders sehen –, hat man die Macht relativ schnell wieder abgegeben. Selbst wenn man sich erinnert: Durch dieses Zusammengehen mit der Ost-CDU hat Kohl ja quasi sich zur Wahl gestellt und eigentlich die Kräfte, die die Reformen oder die Revolution mitgemacht haben, die waren dadurch völlig marginalisiert. Es wäre nach meinem Erachten doch sehr viel besser gewesen, wenn man etwas Eigenständiges versucht hätte. Das hätte zumindest die Möglichkeit eröffnet, dass man dann in eine tatsächliche Vereinigung geht und nicht nur einen Beitritt hat, dass man gleichberechtigt dem Westen gegenübertritt. In der Wirkung war eigentlich dieser demokratisch beschlossene Beitritt eine Art Kolonisierung deluxe, weil man hat eigentlich den Westen vollständig übernommen, und das drückte sich natürlich auch im Führungspersonal aus, und das ist etwas, was bis heute anhält.
"Selbstbefreiung des Ostens als ein Sieg des Westens gefeiert"
Heuer: Diesen Beitritt, wie Sie das nennen, den wollte aber nun wirklich die deutliche Mehrheit der DDR-Bürger damals, und heute sind sehr viele dort bitter enttäuscht. Worüber eigentlich vor allem?
Schulze: Das muss man dann die einzelnen fragen. Für mich ist das persönlich gar nicht so eine ostdeutsche Enttäuschung, sondern eigentlich eine Enttäuschung, in welche Richtung unsere Zivilisation geht. Wir haben damals, glaube ich, insofern viel Zeit verloren, weil diese Selbstbefreiung des Ostens letztlich als ein Sieg des Westens gefeiert wurde, und vieles, was, glaube ich, im Westen als reformwürdig anerkannt worden war, das ist damit zum Schweigen gebracht worden. So eine einfache Sache, dass man jetzt die Bahn wieder entdeckt. Das hätte man vor 30 Jahren auch tun können. In der DDR ging es auch immer, darum, dass man das auf die Schiene verlagert. Aber es ist, glaube ich, eine Sache der Selbstbestimmung, ich selbst habe nicht dieses Gefühl, aber dass man als Ostdeutscher, dass doch ein Großteil sagt, na ja, wir sind doch letztlich zweite Klasse.
30 Jahre Mauerfall: Meine ganz persönliche Wende
30 Jahre Mauerfall: Meine ganz persönliche Wende (imago images / Winfried Rothermel)
Heuer: Selbstbestimmung ist ein gutes Stichwort. Das heißt ja, dass man wirklich sehr eigenverantwortlich handelt. Kann es sein, dass Menschen, die in der DDR sozialisiert wurden, vielleicht ein bisschen weniger gut darin sind, in Demokratie, Globalisierung und Kapitalismus zu bestehen, als die Westdeutschen, die den aktiven Umgang mit all dem jahrzehntelang einüben konnten?
Schulze: Ich bin skeptisch gegenüber so einer These. Das Trennende oder der Unterschied liegt meiner Ansicht nach gar nicht so sehr in dieser Zeit bis 1989. Nun gut, das spielt natürlich auch eine große Rolle. Aber diese Erfahrung von Anfang der 90er-Jahre bis Mitte der 90er-Jahre, das war, glaube ich, sehr viel tiefgreifender. Diese, kann man sagen, Deindustrialisierung, dass man, wenn man eine Arbeit wollte, woanders hinfahren musste. Ich weiß es von meiner Mutter. Die war im Krankenhaus und da waren plötzlich alle Positionen mit Ärzten aus dem Westen besetzt, die Chefpositionen. Das ging teilweise auch ganz gut, aber das ist ja bis heute so, dass viele Führungspositionen im Osten, oder ich glaube, bis zu 80 Prozent oder mehr, aus dem Westen besetzt werden, während Ostführungskräfte im Westen war sind. Ich merke das ja auch, wenn ich Journalisten gegenübertrete oder im Ausland bin, beim Goethe-Institut oder bei Diplomaten. Da ist es immer eine Überraschung, wenn einer aus dem Osten ist.
Heuer: Aber trotzdem: Die Probleme immer zu fokussieren, enttäuscht zu sein, so wie viele im Westen das erleben, zu "jammern", Herr Schulze, das ist ja immer rückwärtsgewandt. Wenn Sie jetzt mal für die Ostdeutschen mit uns zusammen nach vorne gucken, was würden Sie denen denn raten? Worauf sollen die schauen, worauf sollen die Wert legen, was können die selber jetzt beitragen, damit es besser wird?
Schulze: Das ist eine Fragestellung, die ist fast wie eine ungewollte Falle.
Größte Meinungsunterschiede mit Ostdeutschen
Heuer: Nein, nein! – Lösungsansätze suchen!
Schulze: Ja, ja! Aber ich habe die größten Meinungsunterschiede mit Ostdeutschen. Das ist ja nichts Homogenes. Das ist auch sehr heterogen. Von diesem Beitritt haben ja Ost und West profitiert. Aber das ist für mich eher eine Frage von oben und unten. Es geht für mich in dem Sinne gar nicht um die Konfrontation Ost-West. Was jetzt zu tun ist, das ist etwas, was uns alle betrifft. Wenn der Osten dem Westen in einer Sache überlegen war, dann vielleicht, dass er nicht oder weniger vom Süden gelebt hat. Dieses Nord-Süd, das steht ja für uns alle als ein riesen Problem da und diesen Beitritt habe ich auch so erlebt, dass eigentlich der Osten den natürlichen Anspruch des Westens auf den Süden sofort übernommen hat. Ich erinnere mich noch, wie Otto Schily mit der Banane dastand, aber wir haben alle so getan, als würde es die Banane an Rhein und Mosel geben.
Heuer: Wie kommen wir denn weg von oben und unten? Wie kommen wir in West- und Ostdeutschland mehr auf Augenhöhe miteinander?
Schulze: Das ist eine Sache von Verhältnissen. Das ist keine Sache des Wunsches. Es müssen Abschlüsse anerkannt werden. Bei Frauen haben wir Gott sei Dank allmählich eine Quote. Die könnte ich mir auch bei Ostdeutschen vorstellen. Das ist jetzt ernst gemeint und auch mit einem Augenzwinkern. Aber es gibt doch ein großes Missverhältnis, wenn man jetzt Ostdeutsche sieht in Führungspositionen.
Heuer: Man muss mehr Industrie nach Ostdeutschland geben, wichtige Einrichtungen, die Sozialleistungen entsprechend einsetzen, damit es den Bürgern dort auch besser geht? Das wäre Ihr Plädoyer, die Lebensverhältnisse schneller angleichen?
Schulze: Ja. Eigentlich ist das eine Frage, die für ganz Deutschland steht, dass diese Schere nicht weiter auseinandergeht. Ich würde das jetzt nicht so auf Ostdeutschland nur beziehen.
Heuer: Willy Brandts berühmtes Wort "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört", das ist ja immer wieder in aller Munde, in diesem Jahr natürlich ganz besonders. Wie weit sind wir eigentlich 30 Jahre nach der Wende damit gekommen, aus Ihrer Sicht, Herr Schulze?
Schulze: Na ja. Ich finde solche Pflanzen- oder Naturmetaphern für Menschen nicht so besonders geeignet. Das ist ja doch eine Sache, die politisch geregelt werden muss. Ich bin mit einer Westdeutschen verheiratet, aber wir haben jetzt nicht das Gefühl, dass wir zusammenwachsen müssen. Ich glaube, es ist schon viel geholfen, wenn man die Fragen, die man Ostdeutschen stellt, wenn man sich das einfach mal übersetzen würde, wenn das jetzt Westdeutschen gestellt werden würde, das einfach mal umzukehren, und dann kommt sehr oft das Fragwürdige so einer Frage zum Vorschein.
Heuer: Gute Idee! Da kann man sich selber prüfen. Probiere ich jedenfalls aus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.