Donnerstag, 28. März 2024

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Innere Sicherheit
"Verschärfungen im Asyl- und Strafrecht werden wenig fruchten"

Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter sieht die jüngsten Vorschläge der Union in der Sicherheitsdebatte kritisch. Schärfere Gesetze hätten beispielsweise im Fall des Berlin-Attentäters Amri keine Wirkung gehabt, sagte sie im Deutschlandfunk. Die bestehenden Regelungen müssten angewendet werden.

Simone Peter im Gespräch mit Christiane Kaess | 09.01.2017
    Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen, beim Bundesparteitag im November 2016 in Münster.
    Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen. (imago - Rüdiger Wölk)
    Eine Abschiebeanordnung oder Fußfesseln hätten im Fall Amri nichts genutzt. Eine Abschiebehaft für Menschen, die zuvor nicht straffällig geworden seien, stehe auf "sehr wackeligen Füßen". Peter sagte weiter: "Die Vorschläge von Innenminister de Maizière greifen viel zu kurz." Alleine eine Zentralisierung bei den Sicherheitsbehörden reiche nicht aus. Es brauche eine umfassende Reform der Strukturen. Wichtig sei es, sowohl die Bürgerrechte als auch die Sicherheit zu wahren.
    Das müsse aber in Ruhe geschehen: "Wir haben immer wieder gesagt, es macht keinen Sinn, reflexhaft zu reagieren." Die Grünen seien dafür, die Polizei in der Fläche auszuweiten und die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zu überprüfen. Peter betonte, die Grünen seien gegen eine anlasslose Videoüberwachung. Wenn sie an sensiblen Stellen wie Kriminalitätsschwerpunkten eingesetzt würden, werde sich die Partei nicht verschließen. Die Grünen-Vorsitzende sprach sich für einen Dialog mit den Maghreb-Staaten aus. Es müsse darüber gesprochen werden, wie sie abgelehnte Asylbewerber wieder zurücknehmen könnten. Eine Einstufung als sichere Herkunftsstaaten komme aber nicht infrage.
    Mit Blick auf ihre viel kritisierte Äußerung zum Polizeieinsatz in der Silvesternacht in Köln sagte Peter, der Zeitpunkt sei unglücklich gewesen. Im Rechtsstaat müsse man auch die Arbeit der Polizei kritisch hinterfragen dürfen. Es sei aber klar: "Der Schutz der Frauen, der Menschen in der Öffentlichkeit muss gegeben sein."

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Wir können an dieser Stelle das Interview mit der Parteichefin der Grünen, Simone Peter, nachholen. Sie ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Frau Peter.
    Simone Peter: Guten Morgen, ich grüße Sie.
    Kaess: Frau Peter, die Sicherheitspolitik ist dabei, zum Wahlkampf-Thema Nummer eins zu werden. Offenbar haben das jetzt auch die Grünen erkannt. Aber wann positioniert sich die Partei eigentlich dazu?
    Peter: Sehen Sie, wir haben uns ja schon früh positioniert, gerade im letzten Jahr, als die Debatte über die Anschläge von Paris und die Konsequenzen für Deutschland diskutiert wurden. Wir haben immer wieder gesagt, dass es keinen Sinn macht, reflexhaft zu reagieren, sondern wir wollen ja Sicherheit und keine symbolischen Maßnahmen. Deswegen muss darüber gesprochen werden, die Polizei in der Fläche auszuweiten, die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zu überprüfen - das macht ja gerade der Fall Amri klar - und vor allem den Vollzug der Gesetze durchzusetzen, nicht hier weitere Verschärfungen im Asylrecht oder Strafrecht voranzubringen. Das wird wenig fruchten.
    Kaess: Wie glaubhaft können Sie denn als Parteivorsitzende das Thema Sicherheitspolitik vermitteln, wenn Sie nach dem Polizeieinsatz in der vergangenen Silvesternacht in Köln in Frage gestellt haben, ob es verhältnismäßig und rechtmäßig ist, an die tausend Personen wegen ihres Aussehens zu kontrollieren?
    "Ich habe klar gemacht, dass der Zeitpunkt unglücklich war"
    Peter: Sie haben das schon richtig formuliert. Mir geht es ja nicht um den Einsatz der Polizei in erster Linie, sondern der war ja wichtig und notwendig. Wir werben immer dafür, dass hier nicht am falschen Ende gespart werden darf, sondern dass wir Polizei in der Fläche brauchen. Aber in einem Rechtsstaat müssen Polizeieinsätze auch kritisch befragt werden. Ich habe selber eingestanden, dass der Zeitpunkt vielleicht früh war, weil es direkt noch nach der Silvesternacht war, als ich mich geäußert habe.
    Kaess: Da sind Sie zurückgerudert.
    Peter: Ich habe klar gemacht, dass der Zeitpunkt unglücklich war. Das mögen Sie jetzt Zurückrudern nennen. Ich habe deutlich gemacht, dass mir der Einsatz wichtig war. Das war mein erster Satz. Diese Schieflage, die sich dann ergeben hat, hat zu einem äußersten Missverhältnis geführt, das mich kritisch reflektieren lässt, ob man in einem Rechtsstaat solche Fragen noch stellen darf, und ich finde, man muss sie stellen dürfen.
    Kaess: Ihr grüner Parteikollege Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, der hat am Wochenende gesagt: "Wenn der Eindruck entsteht, dass wir im Zweifel eher die Täter vor Kontrollen schützen als Frauen vor Übergriffen, wird uns das viele Stimmen kosten."
    Peter: Sehen Sie, Boris Palmer äußert sich immer wieder mal zu irgendwelchen Themen. Für uns ist klar, da haben wir uns ja auch nach den Übergriffen 2015/2016 deutlich positioniert und auch jetzt deutlich positioniert: Der Schutz der Frauen, der Menschen in der Öffentlichkeit muss gegeben sein. Wir wollen alles tun, damit Sicherheit vorne steht. Aber das kann nicht damit verbunden sein, dass man jetzt reflexhaft nach irgendwelchen Maßnahmen ruft, die mit der eigentlichen Tat oder mit den Dingen gar nichts zu tun haben. Und zum anderen muss es möglich sein, kritisch zu hinterfragen. Das ist mein Statement. Wir Grüne stehen dafür, dass wir Sicherheit und Bürgerrechte immer abwägen.
    Kaess: Aber Herr Palmer war ja nicht der einzige, der Sie kritisiert hat. Die Kritik aus der Partei selber muss ja sehr heftig gewesen sein. Darf man denn bei den Grünen überhaupt noch sagen, was man denkt?
    Peter: Davon gehe ich aus. Das habe ich auch getan. Und das wird übrigens weiter wichtig sein zu reflektieren, was sind die Sicherheitsmaßnahmen, aber nicht auf uns selbst bezogen, sondern vor allen Dingen auf diejenigen, die regieren. Wenn ich mir anschaue, dass die Union jetzt fast zwölf Jahre die innere Sicherheit politisch mit bestimmt, aber keine Strategie, keine Lösung hatte, Anschläge mit zu verhindern, dann frage ich mich, warum verantwortet sich nicht der Bundesinnenminister vor dem Innenausschuss, vor dem Parlament. Wir werden die richtigen Fragen stellen und wir werden immer Sicherheit mit Bürger- und Menschenrechten abgleichen.
    Kaess: Aber jetzt liegen ja eine Menge Vorschläge auf dem Tisch. Dann schauen wir uns die mal an. Bundesjustizminister Heiko Maas von der SPD will die Abschiebehaft für Gefährder ausweiten. Ist das eine gute Idee?
    Peter: Wenn man Abschiebehaft für noch nicht straffällig gewordene Menschen einführen will, dann steht das auf äußerst wackeligen Füßen. Es ist ja so, dass die Abschiebeanordnung nach dem Aufenthaltsrecht auch im Fall Amri schon möglich gewesen wäre. Zudem, in Verbindung mit Meldeauflagen, stellt sich für uns die Frage, warum hat der Vollzug nicht funktioniert. Wir haben relativ scharfe Gesetze, das sind scharfe Schwerter gegen solche Gefährder. Der wurde ja am Ende komplett aus den Augen verloren. Dann hätte auch eine Abschiebeanordnung, eine weitere Verschärfung nichts genutzt, ebenso wenig wie Fußfesseln, weil er gar nicht weiter überwacht wurde.
    "Eine anlasslose Videoüberwachung kann es nicht geben"
    Kaess: Aber all dies war schwierig mit den jetzigen gesetzlichen Auflagen. Das hat sich ja jetzt gezeigt und deshalb sollen die verschärft werden. Was ist dagegen zu sagen?
    Peter: Wenn ich mir das genau angucke, dann hat ja das gemeinsame Terrorabwehrzentrum sieben Mal über den Fall Amri beraten und hat im November festgestellt, er wird wahrscheinlich eher in eine kleinkriminelle Szene abrutschen, und damit eine völlige Fehleinschätzung vorgenommen. Von daher fragen wir uns schon, warum wurden die Gesetze nicht angewandt, warum ist er keiner Meldepflicht unterlegen. Natürlich muss man darüber reden, zum Beispiel mit den Ländern, die die Aufnahme verweigern, wenn es um Abschiebung geht, dass man mit denen Verfahren klärt. Nur eine weitere Verschärfung der Gesetze hätte in diesem Fall tatsächlich gar nichts genutzt.
    Kaess: Sie sind gegen eine Verschärfung. Aber gibt es da überhaupt eine Linie bei den Grünen, denn die Vorschläge von Bundesinnenminister de Maizière, die werden ja von dem Grünen-Co-Chef Özdemir durchaus auch teilweise gut geheißen. Der kann sich vorstellen, die Kompetenzen des Verfassungsschutzes stärker beim Bund zu konzentrieren, und er kann sich auch mehr Videoüberwachung vorstellen. Wo ist da die Linie der Partei?
    Peter: Da haben wir keinen Dissens, sondern eine ganz klare gemeinsame Linie. Wir haben alle gesagt, dass es Zeit ist, dass Bundesinnenminister Thomas de Maizière diese Vorschläge jetzt endlich auf den Tisch legt, weil wir spätestens seit den NSU-Vorfällen immer wieder gesagt haben, es braucht eine Zuständigkeitsklärung der Sicherheitsbehörden, des Verfassungsschutzes. Nur alleine eine Konzentrierung und Zentralisierung auf die Bundesbehörde macht keinen Sinn. Da braucht es eine umfassende neue Struktur, einen umfassenden neuen Plan. Da greifen die Vorschläge von de Maizière viel zu kurz. Und bei den Fragen Asylverschärfungen oder weitere Strafverschärfungen muss man die Frage der Verhältnismäßigkeit stellen. Hier geht es uns darum, Bürgerrechte und die Sicherheit gemeinsam zu wahren.
    Kaess: Aber das ist ja genau die Frage. Wie passt das denn zusammen? Gleichzeitig kann man sich mehr Videoüberwachung vorstellen und die Bürgerrechte will man auch noch verteidigen. Wie soll das zusammen gehen?
    Peter: Das geht so zusammen, dass wir sagen, eine anlasslose Videoüberwachung kann es nicht geben. Da fehlt die Rechtsgrundlage. Das hat auch gerade der Europäische Gerichtshof noch mal sichergestellt. Wenn aber an sensiblen Stellen, da wo es Kriminalitätsschwerpunkte gibt, eine Videoüberwachung organisiert werden soll, dann verschließen wir uns dem nicht. Nur man sollte nicht den Eindruck vermitteln, dass es Anschläge verhindert. Amri, der Attentäter von Berlin, wurde ja zigfach von Videokameras immer wieder mal geortet. Damit hat man die Anschläge nicht verhindern können. Von daher noch mal das Plädoyer, nicht reflexhaft, sondern in Ruhe analysieren. Der Innenminister soll sich erst mal hier dem Parlament und dem Innenausschuss stellen und man sollte mal reflektieren, was bei diesem Einsatz falsch gelaufen ist.
    "Es muss ein faires Asylverfahren geben"
    Kaess: Frau Peter, die Grünen sind dagegen, die Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsländer zu erklären. Nach dem Anschlag in Berlin ist genau diese Frage gestellt worden, ob der Attentäter, der Tunesier Anis Amri, davor hätte abgeschoben werden können, wenn Tunesien ein sicheres Herkunftsland gewesen wäre zu dem Zeitpunkt. Wann denken die Grünen bei den Maghreb-Staaten um?
    Peter: Wir denken bei den Maghreb-Staaten nicht um, weil zum einen diese Länder keine sicheren Herkunftsstaaten sind. Da werden immer noch Gruppen verfolgt. Zum zweiten hat auch das mit dem Fall Amri nichts Konkretes zu tun. Er hat einen Asylantrag gestellt, der wurde abgelehnt. Da hätte auch die Einstufung als sicheres Herkunftsland nichts genutzt, wenn das Land den Täter nicht zurücknimmt. Es hat ja die Identität dieses Täters - und er hatte ja offenbar zigfache Identitäten - nicht festgestanden. Das kam sehr spät. Da fragt man sich auch, warum war das nicht da. Und wir müssen mit den Ländern darüber reden, wie sie die Menschen zurücknehmen, die hier als straffällig gewordene, nicht akzeptierte Flüchtlinge oder Migrantinnen und Migranten ankommen.
    Kaess: Dennoch, Frau Peter, würde uns der Schritt sichere Herkunftsstaaten, die Maghreb-Staaten dazu zu erklären, vielleicht doch ein Stück weiter bringen, denn man weiß ja auch, dass bei den ehemaligen Staaten Jugoslawiens und Albanien diese Einstufung als sicher zu einem drastischen Rückgang der Asylbewerber-Zahlen geführt hat. Das hieße unterm Strich, man bekommt die Gefährder erst gar nicht ins Land.
    Peter: Nein, das kann man so pauschal auch nicht sagen. Wir haben uns sehr intensiv damit befasst. Parallel zu der Einstufung der sicheren Herkunftsländer, was die Westbalkan-Staaten angeht, ging ja dort auch eine sehr intensive Beratung einher. Das heißt, in den Ländern wurde über den Aufenthaltsstatus, den Asylstatus in Deutschland informiert - flächendeckend. Das wurde auch gefördert. Ich weiß das gerade vom Land Baden-Württemberg, die sich da sehr engagiert haben und sich informiert haben, dass diese Informationen vor Ort stattfinden. Das ist zum Beispiel auch ein Punkt für die nordafrikanischen Staaten. Wir brauchen Möglichkeiten, mit diesen Ländern ins Gespräch zu kommen, und dann sollten diese Menschen auch zurückgenommen werden. Wenn sichtbar ist, dass hier der Asylgrund in der Regel nicht gewährleistet wird und die Leute auch zurückgenommen werden, wird das auch einen Einfluss haben.
    Kaess: In diesem Zusammenhang hat jetzt Cem Özdemir für Visa-Erleichterungen plädiert für Länder wie Tunesien. Ist das nicht kontraproduktiv, die Tür jetzt noch weiter zu öffnen?
    Peter: Ich habe ihn so verstanden - und das ist ja auch grundsätzlich unser Anliegen -, dass wir für diejenigen, die wirklich Asyl brauchen und bekommen sollen (das sind ja auch immer noch Menschen aus den Maghreb-Staaten, aber auch aus anderen Ländern; war ja auch ein Thema zum Beispiel für die Syrerinnen und Syrer), dass wir vor Ort Möglichkeiten schaffen, schon zu prüfen, sind die asylberechtigt oder nicht, um dann schnell hier rüberzukommen und nicht die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer zu riskieren. Da sind im letzten Jahr so viele Menschen umgekommen wie noch nie. Das ist sicher kein humaner Akt, das hat mit humaner Asylpolitik gar nichts zu tun. Deswegen muss man sehr früh unterscheiden, wer kann zu uns kommen, wer braucht die Hilfe. Aber es muss ein faires Asylverfahren geben. Hier das Asylverfahren weiter abzuschneiden, das entbehrt der Grundgesetz-Grundlage.
    Kaess: Die Parteichefin der Grünen, Simone Peter, heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch.
    Peter: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.