Freitag, 19. April 2024


Inselgötter - Wettkampf der Religionen

"Gott mag nicht unbedingt Brasilianer sein. Aber er hat sicher viel Zeit in Brasilien verbracht." Das soll Lula da Silva gesagt haben, der frühere Präsident. Wen auch immer wir auf Boipeba fragen - alle antworten das Gleiche: Die Menschen hier haben ein großes Bedürfnis nach Spiritualität. Und die katholische Kirche wird dem nicht mehr gerecht.

Von Jörg-Christian Schillmöller, mit Fotos und Video von Dirk Gebhardt | 26.07.2013
    Die Folge: Die Menschen wenden sich den protestantischen Freikirchen zu. Auch der Candomblé hat Zulauf, die Religion der afrikanischen Sklaven.

    Es ist sieben Uhr abends in der katholischen Kirche "Divino Espírito Santo". Der hellblau gestrichene Barock-Bau aus dem Jahr 1649 liegt auf dem kleinen Hügel gleich neben dem Dorfplatz von Boipeba. Drinnen sind wir mit Nasi verabredet, einer Frau mittleren Alters. Sie scheut nicht das offene Wort: "Die katholische Kirche ist bequem geworden. Sie hat es nicht geschafft, auf die neuen, jungen Kirchen zu reagieren", sagt sie. Sie klingt desillusioniert, als sie meint: "Wir haben das verschlafen."

    Die Fakten: Als Johannes Paul der Zweite einst Brasilien besuchte, waren 90 Prozent der Brasilianer katholisch. Heute sind es noch etwas mehr als 60 Prozent. "Wir brauchen einen Neuanfang", sagt Nasi und erzählt von Bruder Lucas, einem deutschen Franziskanermönch auf der Nachbarinsel Cairú: Er habe damit begonnen, junge Leute wieder für den Glauben zu interessieren. Doch "Frei Lucas" war schon sehr alt und starb im Februar bei einem Autounfall. Ein Rückschlag. "Wir hoffen, dass der Besuch des Papstes uns jetzt neue Hoffnung und Auftrieb gibt", sagt Nasi.

    Die Baptisten holen auf
    Religion auf Boipeba: 3800 Menschen leben hier, und auch hier ist die Mehrheit katholisch, zumindest auf dem Papier. Am meisten aufgeholt haben die Baptisten. Sie haben viele Insulaner überzeugt, und das nicht nur mit ihren freien, persönlich gestalteten Messen.



    Vielmehr leisten sie auch konkrete Arbeit im Alltag: Während die katholische Kirche (das bestätigt Nasi) kein einziges soziales Projekt mehr auf der Insel betreibt, sind die Baptisten fest verankert: Seit 15 Jahren unterhalten sie eine Kindertagesstätte. Und sie bemühen sich darum, Menschen zu resozialisieren, die drogenabhängig oder kriminell geworden sind.

    Der deutsche Baptist Daniel Simon missioniert auf Boipeba
    Der deutsche Baptist Daniel Simon missioniert auf Boipeba (Dirk Gebhardt)
    Auch der Sport ist eine Mission: Der Deutsch-Brasilianer Daniel Simon arbeitet für eine Evangelische Organisation (MEAP), die sich auf Boipeba um die Fischer kümmert. Daniel trainiert junge Leute in Judo, Fußball, Basketball, Handball und Volleyball - und baut in die Sportstunden eine Bibel-Lesung ein. Wir haben Daniel besucht und mit ihm und sechs Jugendlichen Basketball gespielt.

    Basketball auf Boipeba ist eine Mission
    Basketball auf Boipeba ist eine Mission (Dirk Gebhardt)
    Auch wenn die Sporthalle ein rauer Betonklotz ist: Bei mehr als 30 Grad war es drinnen angenehm kühl. Und Daniel hat seine Botschaft klar, aber nicht übertrieben aufdringlich erläutert.

    Der nächste Konkurrent der Katholiken: die Pfingstkirche "Assembleia do Deus". Sie ist ein anderes Kaliber und umstritten. Denn die Pfingstler betreiben aggressive Werbung mit Heilsversprechen. Sie locken die Menschen damit, alle Probleme zu lösen, ganz gleich ob Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Ehebruch. Die Messen verlaufen sehr emotional und ziemlich laut. Hier auf Boipeba soll es vorkommen, dass Frauen ganz offen ihre Wut über den Ehemann hinausschreien (und dass besorgte Gemeindemitglieder den Betroffenen - der wie die meisten Männer nicht am Gottesdienst teilnimmt - dazuholen, um den Sachverhalt zu klären).

    Die Pfingstkirche ist gegen Candomblé und Schwule
    Das Problem: Die Pfingstkirche gilt als erzkonservativ, streng und kommerzorientiert. Vor allem aber gilt sie als vollkommen intolerant - etwa gegenüber Homosexuellen. Schwule und Lesben finden dagegen Zuflucht beim Candomblé mit Wurzeln in Afrika. Eine mystische Religion, die mit Trance und Tieropfern arbeitet und matriarchal geprägt ist (das heißt: es gibt die Mãe de Santo - "Mutter des Heiligen" - und sie zelebriert die Rituale des Candomblé). Darüber klärt uns Marcos auf, ein junger Mann, den wir ganz in Weiß gekleidet im Urwald von Boipeba treffen (er arbeitet ansonsten im Internetcafé der Insel und war bis vor sieben Jahren katholisch).

    Marcos ist Anhänger des Candomblé und betet im Wald von Boipeba
    Marcos ist Anhänger des Candomblé und betet im Wald von Boipeba (Dirk Gebhardt)
    Marcos erklärt uns seine beiden orixas, seine Götter: Einer ist männlich und verbunden mit der Vegetation, den Bäumen und Pflanzen der Insel, eine ist weiblich und steht für das Element des Wassers. Beide werden durch zwei Ketten symbolisiert, die Marcos um den Hals trägt, eine in Grün, eine in Gelb. Hinzu kommt eine weiße Kette, die für die höchste Autorität im Candomblé Olorun steht und die jeder trägt. Der Kreis der Religionen schließt sich, als Marcos von einem Ereignis erzählt, das sich in diesem Jahr zugetragen hat.

    Seit 20 Jahren kommen die Candomblé-Anhänger einmal im Jahr zur katholischen Kirche von Boipeba, um das Gebäude symbolisch von innen zu waschen und damit ein Zeichenn des Dialogs zu setzen. Dieses Jahr haben laut Marcos einige Katholiken Druck gemacht und die Waschung verhindert. Kein Wunder, denken wir, dass die katholische Kirche ihre Gläubigen verliert. Marcos hat Anzeige wegen Diskriminierung erstattet.

    Hörtipp: Christsein in der brasilianischen Peripherie: Beitrag in "Tag für Tag"

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    Karte von Boipeba

    Jörg-Christian Schillmöller
    ist seit 2001 Nachrichtenredakteur beim Deutschlandfunk. Er war mehrfach für den Sender im Ausland auf Reportage-Reisen - zuletzt 2012 mit Dirk Gebhardt im Iran. Brasilien hat er im vergangenen Jahr entdeckt.

    Dirk Gebhardt ist Fotograf und Professor für Bildjournalismus an der FH Dortmund. Er arbeitet seit Frühjahr 2012 an einer Langzeit-Dokumentation über den Sertão, eine Trockenwüste im Nordosten Brasiliens. Fotografiert hat er neben Südamerika auch in Afrika und auf dem Balkan.