Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Insistierende Chronistengestalt

Sehr gut und unnachahmlich in seiner Hingabe an Literatur war Heinz Ludwig Arnolds Wirken für eine komplette Schriftstellergeneration. Dass einer seinen Geist ganz in den Dienst anderer, nicht eben uneitler Geister stellt, ist heute kaum mehr vorstellbar - aber umso hörbarer.

Von Florian Felix Weyh | 03.11.2011
    "Arnold: Nun gibt es ja Autoren, die werden von der Kritik geradezu gelähmt, wenn sie verrissen werden.

    Böll: Ja, ja ...

    Arnold: Aber Sie würden sich dazu nicht ... ?

    Böll: Doch, das trifft einen hart!

    Arnold: Das trifft –

    Böll: Ja, ja! Es gibt schon bittere Sachen, die so weit gehen, dass ich mich also eine Woche lang ins Bett lege und denke: "Jetzt gibst du's auf!" So ist das nicht.

    Arnold: Wann ist Ihnen das passiert?

    Böll: Ach, das ist schon öfter passiert. (lacht) Es gibt so ganze Verrisswellen. Nicht? Es gibt ja offenbar so ...

    Arnold: Beim "Clown" vielleicht?

    Böll: Nein, beim "Clown" nicht, das weiß ich jetzt gar nicht mehr, wann."

    Es ist das erste Interview, das Heinz Ludwig Arnold 1971 fürs Radio führt, und schon merkt man dem Fragesteller im Gespräch mit dem doch sehr berühmten Heinrich Böll seine später perfektionierte, insistierende Art an. Wie alle Radioanfänger begeht Arnold einen entscheidenden Fehler, für den wir ihm heute höchst dankbar sein dürfen: Er überzieht gnadenlos. Über zwei Stunden dauert das Gespräch, ein in Rohform unsendbarer Koloss. Dass sich die verrauschten Magnetbänder erhalten haben, ist das eine Glück; dass der Quartino-Verlag in drei Einzelausgaben über 60 Stunden ungeschnittener Schriftsteller-Selbstaussagen auf den Hörbuchmarkt zu bringen wagt, das andere. Es ist, als säße man unsichtbar auf den Kanapees literarischer Größen. Betreten wir auf Zehenspitzen das Wohnzimmer Walter Kempowskis:

    "Arnold: Ernst Jünger klebt da ja, seh ich gerade!

    Kempowski: Ja, ich hab aber auch andere, wie du siehst.

    Arnold: Ja, ja. /

    Kempowski: Ja!

    Arnold: Läuft das schon?

    Tonmann: Wir können loslegen."

    Oder lauschen wir Jurek Beckers vertraulicher Enthüllung unter vier Augen:

    "Was ich jetzt sage, werden Sie möglicherweise als so'n Anflug von Größenwahn betrachten: Die DDR kommt mir vor – unter anderem – wie auch das Resultat meiner Bemühung. Und dann kommt nen Punkt, da bin ich enttäuscht. Tret ich so drei Schritte zurück, find's Ganze schlimm! Gefällt mir nicht. Und die Enttäuschung kriegt Oberhand. Und ich bring es nicht fertig, mir die Hose sauber zu klopfen und die Jacke abzubürsten und zu sagen: 'Okay, es gefällt mir nicht, ich will nichts mehr damit zu tun haben!' Schaff ich nicht!"

    Daneben nimmt sich Peter Handkes Jura-Irrtumsbekenntnis fast harmlos aus:

    "Ich wusste einfach nicht, was ich wollte. Das Ziel war, Schriftsteller zu werden und zu sein, und da gab's halt einen Professor in Deutsch, der wusste, dass ich da halt schrieb, und der riet mir, ich sollte doch ein Studium wählen, wo man nebenbei viel Zeit hätte zum Schreiben. (lacht) Und zumindest in Österreich war das so, dass man drei, vier Monate im Jahr intensiv da seine Fakten lernen muss, und an sich hat man dann vier, fünf Monate für sich."

    Wolfgang Koeppen hingegen, behauptet er zumindest, wollte nie professioneller Schriftsteller sein:

    "Ich finde, dass das Schreiben, wie ich es betreibe, überhaupt kein Beruf ist! Und wenn ich sage, ich hätte gerne mit meinen Büchern mehr Geld verdient so ist das der Wunsch, Geld zu haben und mir mit Geld das Leben angenehmer machen zu können. Aber ich hätte viel lieber dieses Geld auf irgendeine andere Weise bekommen. Ich hätte viel lieber in der Lotterie gewonnen."

    Wer auch immer Heinz Ludwig Arnold gegenübersitzt – schon nach wenigen Minuten der Befragung, ja manchmal sogleich direkt ab Beginn, stellt sich eher die Atmosphäre einer therapeutischen Sitzung als die eines formalen Interviews ein. Gewiss werden in den vielen anzuhörenden Stunden vergangene ästhetische Schlachten geschlagen, politische Tagesfragen geklärt und Werkstattgespräche zu Büchern geführt, die längst in Antiquariaten verstauben. Aber gerade dies, die absolute Zeitzeugenschaft der Tondokumente, macht das Zuhören dann immer wieder spannend. In den 70er-Jahren scheint es überhaupt nur ein Thema der Literatur gegeben zu haben, die politische Verantwortung des Autors für die Gesellschaft. Aber die Antworten fielen – zum Glück! – ganz unterschiedlich aus, wie man bei Hans Magnus Enzensberger und Franz-Josef Degenhardt hört:

    "Es gibt ja Leute, die haben etwas, was sie ihre Position nennen. So wie man Hausbesitzer ist, so sind die Positionsbesitzer. Ich mein, das ist auch nicht ehrenrührig, nein! So wenig, wie es ehrenrührig ist, Hausbesitzer zu sein! Ich stell nur fest: Also es gibt Positionsbesitzer, und diese Positionen werden dann auch verteidigt. In dem Sinn glaub ich nicht, dass ich ein Positionsbesitzer bin."

    "Degenhardt: Dieses Volksfrontbündnis, das in Frankreich wahrgeworden ist, das auch in Italien wahr wird, diesem Volksfrontbündnis gehört ganz sicherlich die politische Zukunft!

    Arnold: Aber das ist eine Zukunft, die nicht in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren in der Bundesrepublik –

    Degenhardt: Herr Arnold, das kann man nicht sagen! So etwas kann sich sehr schnell ändern! Das kann sehr schnell auf der Tagesordnung stehen!

    Arnold: Glauben Sie denn, dass –

    Degenhardt: Historisch steht es sowieso auf der Tagesordnung. Ich bin kein Prophet, kein Prognostiker, ich kann keine Jahreszahlen angeben, aber die Richtung geht ganz sicherlich dahin."

    "Arnold: Herr Enzensberger, fühlen Sie sich einer politischen Gruppe oder einer politischen Partei verbunden?

    Enzensberger: Nein.

    Arnold: Fühlen Sie sich denn einer Ideologie verpflichtet? Oder bemühen Sie sich gerade um die Freiheit von Ideologie? Sind Sie ein Liberaler, wie Andersch es einmal formuliert hat? Oder ein Freigeist?

    Enzensberger: Ja, Personen ohne Ideologie gibt es ja nicht."

    Der Kommunist Franz Josef Degenhardt sieht 1973 den Untergang der Bundesrepublik voraus, nicht den der DDR, während im selben Jahr Hans Magnus Enzensberger beweist, dass er nicht nur der klügste unter all den versammelten Autoren ist – die vierstündige Aufnahme bereitet intellektuellen Hochgenuss –, sondern auch der geschickteste politische Taktierer. Bohrende Fragen Arnolds nach seinem Standpunkt pariert er gerne mit aphoristischen Ausweichmanövern. Nicht jeder Weggefährte mag diese quirlige Beweglichkeit. Martin Walser:

    "Der Enzensberger hat viel länger unverbindlich am Strande des politischen Ozeans einfach im Sand gespielt und hübsche Burgen gebaut, um den Ozean zu erschrecken, nicht wahr, was natürlich schlecht gelingen kann. Aber er hat das viel länger getan als jeder andere von uns! Er war viel länger unverbindlich."

    Diese Querbezüge sich gegenseitig belästernder Autoren lassen den Literaturbetrieb der Bundesrepublik zwischen 1970 und der Jahrtausendwende bisweilen wie eine neidische und verzankte Großfamilie erscheinen. Aus Sicht heutiger Schriftsteller müssen das dennoch sagenhafte Zeiten gewesen sein. Neben den dominierenden Großdichtern wie Böll, Walser, Grass, Frisch, Dürrenmatt fand sich immer noch genügend Platz für Randfiguren wie Erasmus Schöfer, Hugo Dittberner oder Gerhard Zwerenz, denen Heinz Ludwig Arnold ebenso breite Aufmerksamkeit widmete. Nicht zuletzt geht das auf das einigende Band eines linken Gesellschaftsverständnisses zurück, das alle Autoren zusammenhielt. Dabei fiel nur Walter Kempowski heraus, den Arnold folgerichtig erst 1999 vors Mikrofon bat; da war auch Walser längst kein Linker mehr, sondern ein Wertkonservativer. Kempowski freilich kämpft auch 1999 noch mit Zuschreibungen, die ihm missfallen:

    "Naja, Sie haben eben gesagt, ich sei ein Sammler, das ärgert mich! Ich bin kein Sammler, Sammler sind Leute, die 3000 Kinderrasseln im Schrank verwahren und um die ganze Welt reisen, um die Dreitausendste auch noch zu kriegen! Ich versammle – im Sinne von Enzensberger – also konzentriere Material und gehe dabei ganz oft auch schluderig um. Ich kaufe mir sehr viele Tagebücher und so weiter, aber verwende die nur zu einem ganz geringen Bruchteil."

    Natürlich mag man sich streiten, was diese Schlüssellochperspektive literaturwissenschaftlich bringt, doch die Veröffentlichung unbearbeiteter Tondokumente passt auf jeden Fall zur aktuellen Facebookideologie einer in Medien abgespeicherten Biografie. Das Hauptproblem besteht wohl darin, sich der Masse an Überliefertem gegenüber souverän zu verhalten: Wer alles hört, hört auch viel Triviales, Dümmliches und Langweiliges. Wer nicht alles hört, dem entgehen verblüffende Stellen, etwa aus den Werkstätten von Walser und Enzensberger:

    "Walser: Ich hatte diese Angewohnheit, bei den Sätzen nie zu atmen, bis ich immer den Satz fertig hatte.

    Arnold: beim Schreiben?

    Walser: beim Schreiben. Ich konnte einfach erst immer wieder ausatmen, wenn ich geschrieben habe mit der Hand. Ich schreibe mit der Hand und schreibe dann möglichst schnell, weil ich den Satz schon sehe, und versuch ihn zu bringen. Und dann muss man den Atem einfach anhalten, bis man fertig ist. Und hab ich dann halt irgendwie nicht mehr richtig geschafft. Das Erlebnis hab ich am 23. August 1965 gehabt, gegen späten Vormittag. Da wurde mir auf eine Weise schwindlig wie nie mehr seitdem. Und ich hab also wirklich zwölf Wochen gebraucht, bis ich mich davon erholt hatte! Ich arbeite jetzt nicht mehr so, ich arbeite jetzt ohne diesen Atem."

    "Enzensberger: Wenn ich zum Beispiel die Möglichkeit hätte, vom Deutschen Zündholzmonopol auf den Zündholzschachteln eine Rückseite zu kriegen, dann würde ich natürlich davon Gebrauch machen, das ist klar! Wär eine sehr schöne Form der Publikation. Aber sehr anspruchsvoll, müsste natürlich sehr gut sein. Sehr kurz, sehr unterhaltend ...

    Arnold: und sehr gut!

    Enzensberger: und sehr gut."

    Sehr gut und unnachahmlich in seiner Hingabe an Literatur war Heinz Ludwig Arnolds Wirken für eine komplette Schriftstellergeneration. Dass einer seinen Geist ganz in den Dienst anderer, nicht eben uneitler Geister stellt, ist heute kaum mehr vorstellbar. Er würde sich mit den Beschriebenen und Befragten messen wollen, denn Eckermannsche Demut passt einfach nicht in den lauten, schnellen Betrieb unserer Tage. Mit Heinz Ludwig Arnold hat sich eine singuläre Chronistengestalt verabschiedet.

    Heinz Ludwig Arnold: "Meine Gespräche mit Schriftstellern 1970 – 1974"
    Heinz Ludwig Arnold: "Meine Gespräche mit Schriftstellern 1974 – 1977"
    Heinz Ludwig Arnold: "Meine Gespräche mit Schriftstellern 1977 – 1999"


    Jeweils 1 MP3-CD, Quartino Verlag, 19 bzw. 22 bzw. 23 Stunden