Dienstag, 19. März 2024

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Institut der Deutschen Wirtschaft zu Brexit-Durchbruch
"Das kommt alles so spät"

Der Durchbruch bei den Brexit-Verhandlungen bedeute nichts anderes als "eine Verlängerung der gegenwärtigen Situation", sagte Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, im Dlf. Für die Unternehmen komme die Einigung viel zu spät. "Die haben sich mittlerweile auf einen harten Brexit eingestellt".

Michael Hüther im Gespräch mit Dirk Müller | 14.11.2018
    Farbfoto einer Europaflagge und einer britischen Flagge, Symbolfoto, Nahaunahme
    Die Europäische Union und Großbritannien haben sich sich nach langem Tauziehen auf die Grundsätze eines Scheidungsvertrags geeinigt. (Imago/STPP)
    Dirk Müller: Ein weicher Brexit scheint nun möglich, so dass die Gräben zwischen der Insel und dem Kontinent doch nicht so unendlich tief werden, wie viele Beobachter und Politiker immer wieder gewarnt haben in den zurückliegenden Monaten. Kooperation statt Konfrontation – Am Telefon begrüße ich nun Professor Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). Guten Morgen.
    Michael Hüther: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Hüther, dann kann Europa weiter Business machen mit Großbritannien?
    Hüther: Schön wäre es! Die Unsicherheiten sind groß und sind ja auch in dem Einspieler genannt worden. Die Mehrheiten im britischen Unterhaus sind völlig unklar. Man weiß noch nicht mal, ob sie es durchs Kabinett oder mit Unterstützung des gesamten Kabinetts durchbekommt, was Theresa May jetzt als Einigung ankündigt. Die eigentliche Arbeit liegt ja dann noch vor uns, denn es muss dann in dieser Übergangsphase ein Freihandelsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Kontinent der Europäischen Union erst noch geklärt werden.
    Was wir im Grunde haben, ist eine Verlängerung der gegenwärtigen Situation. Das wäre schon gut. Allerdings kommt das alles so spät, wenn man mit den Unternehmen spricht oder auch mit vor allen Dingen der Finanzwirtschaft, dass sie sich eigentlich mittlerweile auf einen harten Brexit eingestellt haben.
    "Wir haben jetzt eigentlich nur Zeit gewonnen"
    Müller: Das haben wir in vielen Interviews auch so thematisiert. Immer wieder hat es die Befürchtung gegeben. Wir haben auch häufiger mit Ihnen, Herr Hüther, darüber gesprochen. Dennoch: Könnte das der Wendepunkt sein zum Besseren?
    Hüther: Er könnte es sein, weil er deutlich macht, dass auch die Briten das Problem erkannt haben, dass man in Nordirland nicht eine neue Zollgrenze mit entsprechenden Grenzkontrollen etablieren kann, und dass ja immer auch schon galt, viele Detailfragen waren geklärt, 80 Prozent der Fragen. Aber hier bleibt es strittig und es muss vor allen Dingen gelingen, relativ schnell in dieser Übergangsphase, denn dann drohen ja in Großbritannien Wahlen nach diesen zwei Jahren, dann auch zu einer Klärung der Freihandelssituation zu kommen zwischen dem Kontinent und der Insel. Das wäre außerordentlich wichtig. Wir haben jetzt eigentlich nur Zeit gewonnen.
    Müller: Wenn wir Nordirland einmal ausklammern, gehen nur auf die Insel, gehen nur auf Großbritannien und reden über den Handel, über die Dienstleistungen, über die Unternehmen, auch über die Banken, das heißt über das normale tägliche Geschäft, was es jetzt ja noch alles gibt. Ist da die Messe bereits gelesen?
    Hüther: Die Messe ist insofern gelesen, dass natürlich viele sich darauf eingestellt haben, vor allen Dingen in der Kreditwirtschaft, dass es den sogenannten Finanz-Passport nicht gibt, den Financial Passport, dass die britischen domizilierenden Banken auch im Kontinent weiter so agieren können wie bisher. Das ist auch gar nicht in den Handelsverhandlungen drin. Es bleibt jetzt eigentlich die Aussicht, dass man die Produktionsstrukturen, die man hat, möglicherweise so halten kann, aber es bleibt einfach unsicher, und in diese Unsicherheit hinein wird keiner neu investieren.
    Wir haben ja auch schon von deutschen Unternehmen gehört, dass sie zum Teil schon die Produktionsanpassungen vornehmen, denn sie sind ja in Großbritannien nicht, um den britischen Markt zu bedienen, sondern weil sie Teil einer Produktionskette sind. Wenn dann etwas dazwischen kommt, wird es sehr schnell unattraktiv. Das bleibt als Unwägbarkeit bestehen.
    Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln.
    Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. (picture alliance / Michael Kappeler)
    Müller: Das heißt, es sind immer noch viele Fragezeichen da?
    Hüther: Ja. Bis da nicht wirklich von britischer Seite unterschrieben ist und man den Eindruck hat, dass es auch in der Politik, im Parlament eine Klarheit gibt, das Parlament muss am Ende darüber entscheiden. Das ist ja nun geklärt worden. Das ist auch sicherlich richtig für die demokratische Legitimation. Aber es bleibt völlig unklar, wie diese Abstimmung im Unterhaus ausgeht.
    "Der hauptbelastete Akteur wäre die deutsche Wirtschaft"
    Müller: Wie sehen das die Unternehmer? Wie problematisch wird das demnächst, zu exportieren, zu importieren, einfach über die Grenze gehen und zu sagen, hier ist meine Ware? Wird alles teurer werden?
    Hüther: Na ja, es geht ja nicht einfach nur um die Produkte, die man so hin- und herführt, sondern das, was wir als Vorleistung gegenseitig beziehen. Wir haben mal in einem Extremfall, wenn es wirklich zu keinem Deal käme, gerechnet, wer denn der hauptbelastete Akteur wäre außer Großbritannien. Das wäre die deutsche Wirtschaft, vor allen Dingen die Automobilbranche, weil sie in erheblichem Maße Zulieferteile, Vorleistungsgüter aus Großbritannien bezieht und damit allein zwei Milliarden Zölle zu tragen hätte, wenn es denn zu einer WTO-Lösung käme. Wenn das Risiko weg ist, ist es gut, aber noch mal: Es muss erst wirklich unterschrieben sein, auch was dann nach der Übergangsfrist gilt.
    Boris Johnson, bisheriger Außenminister Großbritanniens, spricht während einer Veranstaltung von EU-Gegnern. 
    Boris Johnson, bisheriger Außenminister Großbritanniens (dpa / picture alliance / Will Oliver)
    "Die Briten haben nicht wirklich gesehen, auf was sie sich einlassen"
    Müller: Aber es können doch beide Seiten nicht ernsthaft Interesse daran haben, dass die Produkte, wie Sie sagen, die Vorleistung, wie auch immer, Grundbestandteile, um überhaupt produzieren zu können, dementsprechende Leistungen, die dort gebracht werden, dass das so hoch verzollt wird beziehungsweise taxiert wird, dass sich das keiner mehr leisten kann.
    Hüther: Na ja, gut. Aber wenn man hört, wie in Großbritannien diskutiert wird, wie auch Boris Johnson sagt, das Verbleiben in der Zollunion ist für uns keine Option, weil wir dann keine freien Handelsverträge mit anderen schließen können, dann geht man ja genau dieses Risiko ein. Die Briten haben eigentlich erst relativ spät realisiert, was das eigentlich für sie bedeutet, und insofern fragt man sich in der Tat, wie kann es überhaupt dazu kommen, dass in einer so stark vernetzten Wirtschaft, vor allen Dingen aber bei diesen Vorleistungsverflechtungen - das ist das Kennzeichen unserer Globalisierung -, es zu einer solchen Entscheidung kommt, gleichzeitig dann mit Aufkündigung der Zollunion, die ja die geringste Integrationsqualität hat.
    Der Freihandelsraum, der gemeinsame Markt geht ja dann weit darüber hinaus. Ich habe manchmal wirklich den Eindruck gehabt, dass die Briten nicht wirklich gesehen haben, auf was sie sich einlassen - nicht nur die, die gewählt haben, sondern vor allen Dingen auch die, die das strategisch-politisch betrieben haben.
    Müller: Das Stichwort, Herr Hüther, Zollunion kommt immer wieder. Aber es gibt ja auch mit vielen anderen Ländern keine Zollunion. Es gibt dort ein entsprechendes Handelsabkommen, wie auch immer, multilateral, bilateral, und es funktioniert auch.
    Hüther: Ja, es funktioniert. Nur da war der Startpunkt nicht ein gemeinsamer Markt. Das heißt, der gemeinsame Markt hat ja ein Höchstmaß an Möglichkeiten der Integration für die volkswirtschaftlichen Akteure gegeben. Man geht ja nicht von null aus in eine Zollunion oder in eine gemeinsame Freihandelsperspektive hinein, sondern man kommt von einem höheren Niveau. Insofern wird das Kosten verursachen und Anpassungen auslösen.
    Das Stahlwerk ILVA in Taranto in Süditalien.
    Ein Stahlwerk in Taranto in Süditalien - Die italienische Wirtschaft ist angeschlagen (imago/Italy Photo Press)
    "In Italien sind viel zu wenig Menschen in Arbeit"
    Müller: Dann warten wir die politische Entwicklung heute Nachmittag ab. Wir beide waren gestern Nachmittag verabredet zum Thema Italien und der Auseinandersetzung mit der Europäischen Union, mit Brüssel. Da geht es um den hohen Schuldenberg der Regierung in Rom. Da geht es um das Haushaltsdefizit, um die Neuverschuldung der Regierung in Rom. Brüssel hat eine Frist gestellt, die gestern Abend abgelaufen ist, und die italienische Regierung hat gesagt, wir machen da nicht mit, wir bleiben bei unseren Zahlen. Wir wollen jetzt hier keinen Zahlenwettbewerb machen.
    Trotzdem noch einmal: 2,4 Prozent Haushaltsverschuldung, eine Gesamtverschuldung damit von über 130 Milliarden, was mehr als doppelt so hoch ist vom Bruttoinlandsprodukt, was doppelt so hoch ist wie erlaubt. Die Italiener bleiben hart, weil sie sagen, wir brauchen das Geld, um unsere Wirtschaft, um unsere Arbeitsplätze nach vorne zu bringen. Ein bisschen Verständnis bei Ihnen?
    Hüther: Na ja. Dass in Italien die Wirtschaft nicht gut läuft, ist erkennbar. Das Hauptproblem ist, dass viel zu wenig Menschen in Arbeit sind. Bei uns sind - und diese Zahl muss man schon mal nennen - 75 Prozent der 15- bis 64-Jährigen in Arbeit, in Italien 59 Prozent. Das heißt, das ist eine völlig andere Ausgangssituation. Das Wachstum ist relativ flach. Die sind aus der Krise nicht gut rausgekommen, weil sie einfach auch nicht gesorgt haben für Wettbewerbsfähigkeit und Handlungsfähigkeit.
    Da kann man natürlich sagen, wir machen was. Da kann man die Flat Tax, die Einfachsteuer für kleine Unternehmen auch begrüßen. Da kann man auch sagen, man baut im Sozialsystem um. Nur der Gesamtertrag ist mit höherem Defizit zu erkaufen, und der ist für die Kapitalmärkte nicht glaubwürdig.
    Brüssel kann Briefe schreiben. Das wird diese Regierung nicht wirklich furchtbar interessieren. Aber sie wird am Ende sehen, dass die Zinsen, die sie zu zahlen haben, höher werden, und das wissen die offensichtlich auch, denn Salvini hat ja auch gesagt, dann müssen wir mal gucken, wie wir unsere Bürger im eigenen Land daran beteiligen.
    Es wird keinen Ausweg geben aus Europa heraus. Man kann dieses Land nicht retten, allein von den Beträgen. Sie haben es genannt, diese 132 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
    Müller: 2,3 Billionen Gesamtverschuldung.
    Hüther: Ja, und davon ist die Hälfte in privaten Händen. Das heißt, wir haben hier eine Situation, dass vor allen Dingen die internationalen Investoren, die schon rausgegangen sind, auch weiter rausgehen werden. Dann muss man fragen, wer hält künftig diese Schulden, und dann gibt es auch Vorschläge, na ja. Dann muss man vielleicht Solidaritätsanleihen der Bürger abverlangen. Das nennt man dann finanzielle Repression. Die Bürger, die jetzt alle noch glauben, dass sie mit einem guten Regierungspartner unterwegs sind, werden sehen, dass sie in relativ kurzer Zeit mehr dafür zahlen müssen.
    "Die EZB hat keinen Spielraum mehr. Die hat aufgekauft im Markt, was sie aufkaufen konnte"
    Müller: Ich möchte da noch mal nachfragen. Griechenland kann Europa retten, sagen viele, aber Europa kann nicht Italien retten?
    Hüther: Das ist alleine eine Frage der Größe. Was wir im Europäischen Stabilitätsmechanismus haben, reicht hier nicht. Und wir wüssten jetzt auch gar nicht, wie es gehen sollte, denn man kann nur handeln, wenn das Land akzeptiert, dass es Hilfe benötigt. Das heißt, dann würde es einen Programmstatus erhalten, es würden Programmanpassungen, ein Maßnahmenpaket verabredet, und aufgrund dieses Maßnahmenpakets würde dann über den ESM oder vielleicht auch über die EZB geholfen. Die EZB hat ja eigentlich im Grunde keinen Spielraum mehr. Die hat aufgekauft im Markt, was sie aufkaufen konnte, hat auch dazu geführt, dass die Zentralbank in Italien zwölf Prozent der Staatsanleihen hält. Das ist ein hoher Bestandteil.
    Das ist aber Ergebnis dieser europäischen Geldpolitik und in dieser Situation stehen wir. Das ist von der Größe her einfach nicht möglich und insofern werden wir den Test erleben, wie es wird, wenn die Kapitalmärkte die Anpassung erzwingen.
    Müller: Ich muss noch mal ganz kurz eine Zahl rausnehmen: 2,4 Prozent Neuverschuldung. Jetzt haben wir in vielen Jahren immer wieder über Haushaltsdefizite, Neuverschuldungen gesprochen, auch bei uns im Deutschlandfunk mit Ihnen. Viele Länder kamen da rein, auch Deutschland war ja mal ein Kandidat. Die Franzosen haben über zehn Jahre lang immer überzogen, vier Prozent, fünf Prozent, 3,8 Prozent. Jetzt legen die Italiener 2,4 Prozent vor, 3,0 Prozent sind offiziell erlaubt. Was ist das Problem?
    Hüther: Das Problem ist, dass man bei dieser hohen, nämlich der zweithöchsten, auf das Bruttoinlandsprodukt bezogenen Staatsschuld kaum noch handlungsfähig ist, dass es eine Hilfe nicht wirklich geben kann und dass man Erwartungen, gegebene Versprechen nicht einlöst. Man kann natürlich sagen, 2, 4 ist 0,6 unter 3,0. Das ist alles richtig.
    Nur ist ja die Frage, wie handlungsfähig ist dieser Staat und was hat er vorher versprochen, und wenn das dann untermalt ist mit einer solchen Konflikt-Kommunikation und auch einem Verhalten, dass einem Europa egal ist, dann stellt sich natürlich schon die Frage, wie handlungsfähig ist dieser Staat nachhaltig, und dann reagieren die Kapitalmärkte, wie sie reagieren. Insofern hat das von daher einfach ein Glaubwürdigkeitsproblem.
    Müller: Er hat ja 0,8 versprochen, um das noch mal reinzuwerfen.
    Hüther: Das war die Vorgängerregierung, und auch da muss man wissen: Eigentlich müsste Italien längst Überschüsse erwirtschaften, angesichts dieser hohen Staatsverschuldung. Da kann man viel machen. Man hat ja gesehen, wenn man mal ein bisschen Reformen macht am Arbeitsmarkt, dann steigt auch die Beschäftigung, dann kann man auch Exporte stärker generieren. Das alles ist aber völlig verschwunden.
    Man glaubt, man kann das einseitig machen, und das wird nicht funktionieren. Man muss anders herum sagen: Liebe Italiener, wenn ihr glaubt, ihr könnt das alleine, müsst ihr euch nicht wundern, wenn dann die Kapitalmärkte fragen, wie das aussehen soll.
    Müller: Bei uns im Deutschlandfunk Professor Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Hüther: Sehr gerne. Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.