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Inszenierung "Graf Öderland - Wir sind das Volk"
Pegidas Bürgerchor

Volker Lösch inszeniert sehr frei nach Max Frisch und mit Texten von Dresdnern am Staatsschauspiel ein Stück, welches zu einer Haltungsentscheidung auffordert: Denn ein Chor skandiert Pegida-Parolen, genauso kommen Flüchtlinge und die verunsicherte Stadt zu Wort - belohnt wird die Aufführung mit Standing Ovations.

Von Hartmut Krug | 29.11.2015
    Bürgerchor in "Graf Öderland auf der Bühne des Dresdner Staatsschauspiel in Dresden (Sachsen). Die islam- und fremdenfeindliche Pegida-Bewegung wird in ihrer Geburtsstadt Dresden zum Theaterstoff. Das Stück "Graf Öderland" von Max Frisch wurde in Regie von Volker Lösch inszeniert.
    Chor in "Graf Öderland auf der Bühne des Dresdner Staatsschauspiel in Dresden. (picture alliance / dpa / Matthias Horn/ Staatsschauspiel Dresden)
    Ein Staatsanwalt kann nicht schlafen. Er hat einen Mörder anzuklagen, dabei versteht er ihn. Hat dieser doch, als stets funktionierender Kassierer einer Bank, eines Abends einfach einen Hauswart mit der Axt erschlagen. Der Mörder reagierte mit seiner Tat auf ein Leben, das nur aus Pflichterfüllung bestand. Mit der Arbeit als Tugend, die Freude und Vergnügen ersetzte, - ohne Hoffnung auf Änderung. Warum sollte der, der bereits sein Leben als Gefängnis empfand, vor dem realen Gefängnis Angst haben. Frisch schreibt:
    "Man macht sich ein Gewissen daraus, dass man lebt, und jeder sucht nach einem Sinn, nach Ersatz für die Freude. Es wuchert das Gewissen, bis man erstickt – oder ausbricht."
    Auch der Staatsanwalt empfindet sein Leben als entfremdet. Seine Ersatzbefriedigung ist der Traum, mit einer Segeljacht zur griechischen Insel Santorin zu fahren.
    Als das Dienstmädchen kommt, Feuer im Kamin macht und die Geschichte vom Grafen Öderland erzählt, der mit der Axt durch die Wälder zog, zerrt der Staatsanwalt die Akten aus der hoch aufragenden Schrankwand und wirft sie ins Feuer. Er vernichtet damit seine Identität, bricht aus und geht selbst in die Wälder. Und wird als neuer Graf Öderland zum Anführer einer marodierenden Protestbewegung. Doch was die Menschen herrlich und frei machen sollte, endet, nachdem der Staatsanwalt seine Gefolgschaft verraten hat, als neues diktatorisches und gewalttätiges Regime.
    Das Stück "Graf Öderland" von Max Frisch, das sich deutlich am Nationalsozialismus abarbeitet, wurde 1951 in Zürich uraufgeführt, erreichte aber, obwohl vom Autor mehrfach überarbeitet, keine sonderliche Bühnenpräsenz.
    Volker Lösch benutzt dies arg didaktische Stück nun als Folie, um die Pegida-Bewegung kritisch zu analysieren. Dazu montiert er zwischen die Stückszenen eine Fülle nicht nur chorischer Originaltexte von Dresdnern. Auch in ihnen herrscht der Ton von Unzufriedenheit an einer Leere des Lebens vor. Man fühlt sich allein gelassen, hat Angst, selbst seinen teils als prekär empfundenen Status zu verlieren, sehnt sich nach einem stärkenden Gemeinschaftsgefühl und findet Hoffnung in der aggressiven Ausgrenzung anderer.
    Exemplarisch überzeichnete Figuren
    In den Szenen von Frisch verzichtet die Inszenierung auf jede Psychologie. Vorgeführt werden keine Charaktere, sondern nur exemplarisch ausgestellte und überzeichnete Figuren. Ben Daniel Jöhnk als Staatsanwalt führt wunderbar wilde Posen vor. Und mit Lea Ruckpaul in den Rollen seiner wechselnden Gespielinnen zeigt er ein akrobatisches Spiel der suchenden Körper. Schatten und Feuer, düstere Menschen mit Äxten, ein riesiger, rauchender Kohlenmeiler und viele farbliche Lichteffekte bestimmen die Szenen.
    Dazwischen aber tragen immer wieder der Chor, aber auch einzelne, mit einem "Wir sind das Volk" ihr Dresdner Selbstbewusstsein vor. So erzählen sie von Wendeerfahrungen mit einem "übergestülpten System": Dabei äußern sich sogenannte stinknormale Bürger, aber auch Hartz-IV-Empfänger, die vor einem weiteren sozialen Absturz, vor allem aber vor den Fremden, Angst haben.
    - "Bis 2020 leben alle Deutsche auf der Straße. Und die Flüchtlinge schön in den Wohnungen."
    - "Die meisten sind Schwarzafrikaner, männlich, frauenfeindlich, und telefonieren ständig mit ihrem Smartphone. Das ist die Wahrheit."
    Kluge Montage über das Entstehen einer gesellschaftlichen Bewegung
    Der Abend ist eine kluge Montage über das Entstehen einer gesellschaftlichen Bewegung, der deren Gefühlsentwicklungen verstehbar macht, ohne sie zu akzeptieren. Da werden Pegida-Mitglieder mit vielen schlimmen Zitaten vorgeführt, so mit einem "Ab nach Auschwitz und Buchenwald. Da ist Platz genug." Aber auch einzelne Schauspieler treten mit ihren Meinungen vor den Vorhang.
    Da wird von einem Gefühl der totalen Unsicherheit in der Stadt berichtet. Und Annedore Bauer tobt sich in einer nicht enden wollenden furiosen Wutrede über die schweigende, brave Bürgerschaft aus. Dabei greift sie massiv die Inaktivität und Phrasen des Dresdner Bürgermeisters und des sächsischen Ministerpräsidenten an.
    Torsten Ranft stellt virtuos eine traurig-komische Angela Merkel auf die Bühne und entlarvt dabei die Hohlheit ihrer Worte. Während seine Kollegin, die Sigmar Gabriel verkörpert, mit diesem das gleiche tut. Während der 17-jährige Syrer Joussef Safok still und eindringlich von seiner Flucht erzählt.
    Mit diesem Panorama der Wahrnehmungen und Meinungen wird eine Haltungsentschiedenheit gefordert.
    Fazit: Volker Lösch ist mit seinen Schauspielern und dem Bürgerchor eine virtuose Inszenierung mit vielen aufklärerischen Effekten gelungen. Natürlich, und das muss kein Nachteil sein, fand sie vor einem einverständigen Publikum statt, das mit Standing Ovations reagierte.