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Intelligente Schuluniformen
Mit Funkchips gegen Schwänzer - klappte nicht

Kinder, deren Schuluniformen mit Überwachungstechnologie ausgestattet sind, um sie vom Schule schwänzen abzuhalten? Das fand 2012 tatsächlich in Brasilien statt. In der Kleinstadt Vitoria da Conquista kamen intelligente Schuluniformen zum Einsatz. Das Beispiel sollte Schule machen - hat es aber nicht.

Von Anneke Meyer | 08.11.2016
    Schulunterricht in Codó, Bundesstaat Maranhão, Brasilien. Zwei Klassen werden in einem Raum unterrichtet.
    Durch Überwachungsmaßnahmen weckt man nicht das Interesse der Kinder am Lernen. Die Schulbehörde des brasilianischen Bundesstaats Bahia hat das erkannt und versucht stattdessen durch mehr Kunst und Sport, die Kinder freiwillig zum Schulbesuch zu bewegen (dpa picture alliance / Sandra Gätke)
    Es ist eine Meldung, die weltweit Schlagzeilen macht: In der brasilianischen Stadt Vitoria da Conquista werden Schüler durch "intelligente Schuluniformen" am Schwänzen gehindert. Auf Veranlassung des Bildungsministeriums des Bundestaates Bahia werden im März 2012 alle Grundschüler der Kleinstadt mit Schuluniformen ausgestattet, in die ein sogenanntes RFID-Tag eingenäht ist, ein funkendes Etikett also. Eine Maßnahme zum Schutz der Schüler, erklärt Elinea Souza, damals Mitarbeiterin des Bildungsministeriums, gegenüber den Medien:
    "Leider sehen wir, dass Schüler die Schule verlassen, um stattdessen ins Internetcafé zu gehen oder Billard zu spielen. Manche nehmen auch Drogen oder werden kriminell. Die Eltern denken, ihr Kind ist in der Schule. Und wenn die Schule den Fehlzeiten nachgeht, kommen solche Geschichten zu Tage."
    Projekt scheitert aufgrund technischer Probleme
    Das Überwachungssystem soll eine direkte Kommunikation zwischen Schule und Eltern herstellen und die Kinder von Dummheiten abbringen. Lesegeräte, die an den Eingängen angebracht sind, erfassen über die Funkchips in der Kleidung, welcher Schüler das Schultor passiert. Per SMS erfahren die Eltern dann automatisch, wann ihr Sprössling eingetroffen ist. Eine tolle Idee, freut sich eine Mutter gegenüber dem Fernsehsender SIC:
    "Ich finde das wirklich gut. Es beruhigt mich wirklich, zu wissen, dass mein Sohn tatsächlich in der Schule ist."
    Aber funktioniert das Ganze auch wirklich wie geplant?
    "Não funcionava não."
    Nein, es funktioniert gar nicht, sagt ein Schüler Reportern des Fernsehsenders "Rede Bahia", nachdem er die Überwachungsuniform ein Jahr lang getragen hat. Und eine Mitschülerin ergänzt:
    "Die Nachrichten für meinen Bruder sind immer angekommen, aber für mich hat meine Mutter nie eine SMS erhalten."
    Eigentlich sollte das Anti-Schwänzer-Programm schrittweise auf alle staatlichen Schulen in Bahia ausgeweitet werden. Stattdessen wird das Pilotprojekt anderthalb Jahre nach seinem Start abgebrochen. Der Grund: technische Schwierigkeiten.
    Mobilfunknetze der Gegend zu schlecht
    Einige der eingenähten Chips sind aus den Uniformen gefallen. Und viele Eltern haben nur unregelmäßig Textnachrichten erhalten, obwohl ihre Kinder in der Schule waren. Kein Wunder, meint Lucas Melgaҫo. Der gebürtige Brasilianer ist Überwachungsforscher an der flämischen Freien Universität Brüssel in Belgien:
    "Wir sprechen hier über staatliche Schulen, die sehr arm sind und an denen es keine technische Infrastruktur gibt. Ich war deshalb sehr überrascht, dass die Gemeinde so viel Geld in eine experimentelle Technologie steckt, deren Effektivität nicht erwiesen ist. Ich habe erwartet, dass das nicht funktioniert, und zwar schon allein aufgrund der schlechten Mobilfunknetze in der Gegend. Damit die Eltern per SMS benachrichtigt werden können, müssen sie ständig Empfang haben. Das ist dort aber nicht gewährleistet."
    In der Industrie wird die RFID-Technologie schon lange verwendet. Wäschereien identifizieren damit Hemden oder Hotelbettwäsche. Große Modeketten wie Gerry Weber überwachen mithilfe der Funkchips ihre gesamte Logistik.
    Rein theoretisch ist es durchaus möglich, auch Schüler mit RFID im Blick zu behalten. Das haben entsprechende Versuche an Schulen in den USA und Großbritannien gezeigt. Doch obwohl es dort keine technischen Probleme wie in Brasilien gab, waren auch diese Vorstöße nicht von langer Dauer.
    Eltern und Schüler sahen in dem Kontrollsystem kein Mehr an Sicherheit, sondern ein datenschutzrechtliches Risiko. In Texas zum Beispiel zog eine Schülerin vor Gericht, weil sie ihre Persönlichkeitsrechte eingeschränkt sah - und gewann den Prozess.
    Pädagogischer Effekt nicht vorhanden
    In Brasilien wird autoritäre Kontrolle noch eher akzeptiert, obwohl auch dort Bewegungen immer aktiver werden, die sich für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte einsetzen, sagt Lucas Melgaҫo. Der Sicherheitsforscher hält es aber auch generell für fraglich, ob das RFID-Monitoring sinnvoll ist:
    "Überwachungstechnologie kann Schüler natürlich dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern. Die Frage bleibt, ob sie es aus den richtigen Motiven tun. Diese Schüler hören nicht auf zu schwänzen, weil sie verstehen, warum es gut is,t zur Schule zu gehen, sondern weil sie eine Strafe vermeiden wollen."
    Direkt nach Einführung der intelligenten Schuluniformen hatte diese Angst vor Bestrafung in Vitoria da Conquista dazu geführt, dass an den 25 Pilotschulen die Schwänzer-Rate um zwölf Prozent sank. Von insgesamt 22 Prozent auf zehn Prozent. Am Ende des Projektes drückten sich aber dann doch wieder 20 Prozent der Schüler vor dem Unterricht.
    Obwohl die Überwachungsmaßnahme rund 500.000 Euro gekostet hat, war sie also fast wirkungslos. Bis auf weiteres setzt die Schulbehörde deshalb auf eine neue Strategie, erklärt Bildungssekretär Ricardo Marquez im Fernsehsender Rede Bahia:
    "Sport und Kunstangebote stärken, damit die Schüler lieber zur Schule gehen. Damit sie nicht gezwungen werden, sondern aus freien Stücken kommen."
    Eine Strategie, die weniger Schlagzeilen macht, den Anteil der Schulschwänzer aber vielleicht tatsächlich verringern kann.