Donnerstag, 28. März 2024

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Intendant der Berliner Festspiele
„Zum Ostdeutschen ist man gemacht worden durch 30 Jahre“

Die Geschichte nach dem Fall der Mauer müsse neu geschrieben werden, so die Forderung von Thomas Oberender, dem Intendanten der Berliner Festspiele. In den letzten 30 Jahren habe man den Bürgern der ehemaligen DDR ihre Geschichte genommen, sagte er im Dlf. Davon profitiere auch die AfD.

Thomas Oberender im Gespräch mit Anja Reinhardt | 10.11.2019
Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, eröffnet die Pressekonferenz zum Theatertreffen 2018. Das 55. Theatertreffen zeigte vom 4. bis zum 21. Mai bemerkenswerte Inszenierungen der Saison aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, plädiert für eine neue Geschichte der Friedlichen Revolution (picture alliance / Annette Riedl)
Für eine andere Geschichtsschreibung müsse man die Leute befragen, die diese Geschichte selbst erlebt hätten, so Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele: "Die Leute, die damals die Revolution gemacht haben und die ein anderes Land auf den Weg bringen wollten und die auch die Wiedervereinigung aktiv mitgestaltet haben. Das ist wichtig, weil die Geschichte der Wiedervereinigung doch sehr unterschiedlich erlebt wurde." Stattdessen habe sich ein Bild von der Geschichte seit dem Fall der Mauer herausgebildet, an dem viele Menschen so gar nicht mitgewirkt hätten.
Verfestigung von Stereotypen
Es habe einen pragmatischen Zug in der Gestaltung der Wiedervereinigung gegeben, der sehr viele Wunden und sehr viele Grobheiten und sehr viel Zerstörung angerichtet habe, allerdings hatte auch niemand ein besseres Rezept in der Tasche, denn alles sollte 1989 so schnell wie möglich passieren. Erst jetzt, mit dem Abstand von 30 Jahren könne man klarer sehen, wie und was damals passiert sei. Stereotype hätten sich verfestigt, zum Beispiel wie der Osten sei und wo die Probleme im Osten liegen. "Die sind einer Erzählung geschuldet, von der ich glaube, dass sie über lange Zeit sehr stark westdeutsch dominiert war. Man sagt 'die ehemalige DDR'. Die 'ehemalige Bunderepublik' sagt man halt nicht." Die Perspektive müsse ergänzt werden durch die, die bislang noch nicht erzählt wurde.
Enteignung der eigenen Geschichte
Thomas Oberender plädiert im Sinne der Occupy-Bewegungen dafür, eine Reflexionspause zu erzwingen. "Das heißt nicht, dass danach alles anders ist. Leider. Aber es heißt, dass das, was wir für normal empfinden, für selbstverständlich, doch erheblich erschüttert und neu betrachtet wird. Und das ist ein großer Gewinn, wenn das passiert." Die Erfahrungen von Arbeitslosigkeit und Betriebsauflösungen seien als alternativlos betrachtet worden. Das stünde im Rückblick aber gerade bei der jungen Generation in Frage. Auch er habe nach dem Fall der Mauer das Gefühl der Freiheit gespürt, heute spüre er eher eine Enteignung von der eigenen Geschichte. "Zum Ostdeutschen ist man gemacht worden durch die 30 Jahre".
Grenzverschiebung durch die AfD
Es gehe ihm mit seinem Versuch, die Geschichte nach dem Mauerfall um ostdeutsche Perspektiven zu ergänzen, auch darum, den geschichtsrevisionistischen Parolen der AfD entgegentreten zu wollen, so Thomas Oberender. Das, was rechtsnational sei, werde immer sagbarer und normaler im gesellschaftlichen Diskurs. "Und diese Grenzverschiebung, die hat niemand so stark vollzogen wie die AfD."