Dienstag, 19. März 2024

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Internationale Händel-Festspiele
"Rodrigo" zur richtigen Zeit

Erstmals wurde bei den diesjährigen Händel-Festspielen in Göttingen die Oper "Rodrigo" aufgeführt. Georg Friedrich Händels erste italienische Oper bezieht sich mit dem Titelhelden auf den letzten König der Westgoten in Hispanien: Roderich. Die Geschichte wirkt allerdings erstaunlich aktuell.

Von Kirsten Liese | 20.05.2019
    Szene aus der Händel-Oper "Rodrigo" mit Anna Dennis (vorne) als Florinda und Erica Eloff als Rodrigo
    Anna Dennis (vorne) als Florinda und Erica Eloff als Rodrigo in der gleichnamigen Händel-Oper (Internationale Händel-Festspiele Göttingen/Alciro Theodoro da Silva)
    Musik: Violinen-Solo zu Beginn der Arie "Per dar pregio all’amor mio"
    Gefühlte zehn Minuten lang spielt die Konzertmeisterin ganz allein. Das virtuose Geigensolo leitet die schönste Arie in Händels früher Oper "Rodrigo" ein. Ungemein anrührend hält da die eigentliche Hauptfigur, die Königin Esilena, in unerschütterlicher Treue zu ihrem Mann, der sie betrogen hat. Zärtlich schmiegt sich ihr warmer Sopran der obligaten Solo-Violine an.
    Musik: Arie "Per dar pregio all’amor mio"
    Die Statue des Komponisten Georg Friedrich Händel in Halle an der Saale.
    Die Statue des Komponisten Georg Friedrich Händel in Halle an der Saale. (imago/Steffen Stellhorn)
    Seinen 1707 in Florenz uraufgeführten "Rodrigo" schrieb Georg-Friedrich Händel im Alter von 22 Jahren, nachdem er seine Lehrjahre in Hamburg beendet und seine Wanderjahre in Italien begonnen hatte. Schnell machte der gebürtige Hallenser in der Toskana als "Sassone famoso"- also als "berühmter Sachse"- "von sich reden. Gleichwohl kam seine erste italienische Oper in der langen Geschichte der Göttinger Händel-Festspiele zuvor noch nie zur Aufführung. Festspielintendant Tobias Wolff begründet das damit, dass das Notenmaterial erst in jüngerer Zeit erschlossen wurde:
    "In den 80er-Jahren ist das Manuskript wiederentdeckt worden in einer Privatbibliothek, und davor hatte man nur Fragmente, das war also kein vollständiges Werk, und insofern hat es ein bisschen gedauert, bis es sich im Repertoire etablierte."
    "Rodrigo"-Handlung erstaunlich aktuell
    Das lange Warten auf den "Rodrigo" beschert aber auch Vorteile. Es ist das richtige Stück zur richtigen Zeit. Zwar bezieht sich Händel mit seinem Titelhelden auf den historischen Roderich, den letzten König der Westgoten in Hispanien. Aber seine Geschichte wirkt erstaunlich aktuell:
    Wolff: "Man könnte fast sagen, das ist Händels Beitrag zur MeToo-Debatte, es geht mit einem unglaublich drastischen Dialog los. Florinda sagt, du Schuft, du hast mich verführt, du hast mir versprochen, du verlässt deine unfruchtbare Ehefrau, hast mir ein Kind gemacht und jetzt lässt du mich sitzen."
    Weil sich Rodrigo von den Forderungen der Geliebten unbeeindruckt zeigt, will Florinda ihn mit Hilfe zweier weiterer Männer, die sie als Verbündete auf ihre Seite ziehen kann, vernichten. Zu spät werden dem hedonistischen Halodri die fatalen Folgen seines machohaften Verhaltens bewusst. Doch reicht seine Reue nicht aus, um den Frieden wiederherzustellen. Allein Esilena, die der zornigen Rivalin sogar ihren Platz an Rodrigos Seite als Herrscherin anbietet, zeigt soviel menschliche Größe, dass sich am Ende doch noch alle versöhnen.
    Händels Genialität im "Rodrigo" drückt sich besonders in seiner Freude am Experimentieren mit Klangfarben und kammermusikalischen Formationen aus.
    Wolff: "Wir haben da oft das Triosonatenprinzip, einfach nur eine Continuo-Gruppe und ein Sänger und dann kommt plötzlich nur für ein paar Takte das Orchester rein. Das alles zeigt, dass da ein sehr junger begabter Komponist ist, der auf der Suche ist nach seinem Stil."
    Musik: "Rodrigo", Duett Rodrigo-Elesina
    Die Bühne zeigt eine heruntergekommene Palastruine, ein schwerer Lüster und ein Cembalo sind die einzigen Relikte glanzvoller vergangener Zeiten. Die baufälligen, einsturzgefährdeten, maroden Wände spielen auf die sich in Restauration befindende Göttinger Stadthalle an.
    "Seiner Zeit voraus"
    Regisseur Walter Sutcliffe hat mit den Sängerinnen und Sängern überzeugende Rollenporträts entworfen. Besonders sichtbar wird das an dem Titelhelden Rodrigo, den der musikalische Leiter Laurence Cummings mit einer Sopranistin besetzt:
    "Im Original war Rodrigo für einen männlichen Kastraten vorgesehen. Aber die Partie liegt so hoch, dass wir uns für einen Sopran entschieden haben. Im Gegenzug haben wir die Partie des Evanco, der im Original für einen weiblichen Sopran vorgesehen ist, mit einem Countertenor besetzt. Diese Rolle liegt ebenso ziemlich hoch, woran sich zeigt, dass Händel sich hinsichtlich der Geschlechter in seinen Besetzungen flexibel zeigte und damit seiner Zeit voraus war. Unsere Erica Eloff ist extrem groß, größer als ich und gibt einen überzeugenden Mann ab."
    Erica Eloff fasziniert vor allem mit ihrer staunenswerten Verwandlungskunst. Sie sieht aus wie ein Mann, bewegt sich perfekt wie ein solcher und lässt ihren Sopran in den Höhen mit der eines Herrschers würdigen Kraft leuchten.
    Die schönsten Klänge für Kopfstimme hat Händels Partitur freilich der Gattin Esilena in Gestalt der Sopranistin Fflur Wyn vorbehalten: Traumwandlerisch auf einem ewigen Atem singt sie ihre ganz langen, leisen Töne. Inniglich verbindet sich ihre Stimme mit Erica Eloff im Duett.
    Musik: "Rodrigo", Duett
    Mit Anna Dennis, die ihre Florinda mit Furor singt, ist schließlich noch ein dritter vorzüglicher Sopran an Bord. Und auch die hohen Männerstimmen, die das Ensemble komplettieren, durchleben ihre Partien sehr aufwühlend.
    Allerdings verirren sich auch unnötig irritierende Regie-Einfälle in die Inszenierung, die Tierfreunden unangenehm aufstoßen, wenn etwa ein zu Tode gekommener Hund - selbstverständlich als Attrappe - im fröhlichen Finale zum Festtagsbraten wird. Laurence Cummings und seinem trefflichen Festspielorchester Göttingen beim Musizieren zuzusehen, ist immer wieder ein großes Vergnügen. Mit Verve, Frische und spürbarer Begeisterung für die kontrastreichen Affekte geht es da fetzig zur Sache, aber auch mit dem gebotenen lyrischen Feinsinn.
    Oratorium "Saul"
    In dem Oratorium "Saul" kommen die den Göttinger Händel-Festspielen im Motto vorangestellten magischen Saiten besonders zum Tragen, wenn der biblische David mit seinen filigranen Harfenklängen den wahnsinnigen, ihm nach dem Leben trachtenden Titelhelden zu besänftigen sucht. Herrliche Stimmen wie der als David für sich einnehmende Countertenor Eric Jurenas, der Tenor Benjamin Hulett sowie die noch am Anfang einer vielversprechenden Karriere stehenden Sopranistinnen Mary und Sophie Bevan geben den ältesten deutschen Händel-Festspielen in Göttingen ihr besonderes Profil. Für die große Jubiläumsfeier zum 100-jährigen Bestehen im kommenden Jahr sind sie mit solchen Kräften bestens gerüstet.