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Internationale Pressestimmen
"Die unbestrittene Königin von Europa"

Der angekündigte Rückzug von Angela Merkel als CDU-Chefin wird von Medien weltweit kommentiert. Die einen sprechen von einem "Autoritätsverlust auf ganzer Linie", andere machen sich Sorgen um die Zukunft Europas. Eine Auswahl:

30.10.2018
    Eine Auswahl von nationalen und internationalen Zeitungen
    Die internationale Presseschau - im Deutschlandfunk (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Das Luxemburger "Tageblatt" lobt die Entscheidung der CDU-Chefin und sieht den Rückzug als Chance:
    "Durch den Rücktritt als Parteivorsitzende will Merkel der CDU einen letzten Dienst erweisen. Erstens laufen die 'Merkel muss weg'-Losungen der Rechten ab jetzt ins Leere, denn Merkel ist praktisch weg. Das kann in Ostdeutschland helfen. Zweitens kann die Union im Idealfall nun ruhig überlegen, wer neuer Spitzenkandidat werden soll. Das muss nicht der neue Unionschef sein, der nun eher im Schweinsgalopp gefunden werden muss. Die CDU könnte sich in einem offenen Verfahren auch für einen ganz anderen, jüngeren Bewerber oder eine Bewerberin entscheiden. Sie sollte sich jedenfalls die nötige Zeit dafür nehmen. Auch für ihre inhaltliche Neuorientierung." (Tageblatt, Luxemburg)
    Ähnlich sieht es die niederländische Zeitung "De Volkskrant":
    "Merkel hat die Macht aus der Hand gegeben, zum ersten Mal seit 18 Jahren", lesen wir in der niederländischen Zeitung DE VOLKSKRANT. "Die Frau, für die der Machterhalt zum Markenzeichen wurde, lässt von nun an andere über ihr Schicksal entscheiden. Das ist eine Zäsur in der deutschen Politik. Merkel gibt den Parteivorsitz bestimmt nicht aus freien Stücken ab. Aber ihre Entscheidung ist keine Panikreaktion. Es ist ein letzter Versuch, nach vorn zu schauen und ihrer Partei den erforderlichen Freiraum für eventuelle vorgezogene Neuwahlen zu verschaffen." (De Volkskrant, Niederlande)
    Die Neue Zürcher Zeitung ist anderer Meinung. Der Rückzug passe zur "Zauderin Merkel":
    "Die Kanzlerin hat die Chance eines glanzvollen Abgangs endgültig verpasst. Stattdessen muten ihre Ankündigungen eher als ein Manöver an, das die verbliebene Macht noch so lange wie möglich in die Zukunft hinüberretten soll. Der Verzicht auf das Parteiamt ist ein Blitzableiter. An der neuen Person an der Parteispitze und an den Kämpfen um die nächste Kanzlerkandidatur sollen sich in den kommenden Jahren die Medien und die politische Konkurrenz innerhalb und außerhalb der Partei abarbeiten, während die Grand Old Lady im Kanzleramt noch drei Jahre lang weiter die Fäden zieht. Das ist ganz nach dem Geschmack der legendären Zauderin, die sich stets durch ihre Meisterschaft ausgezeichnet hat, politische Krisen auszusitzen und ihre Kritiker ins Leere laufen zu lassen." (Neue Zürcher Zeitung, Schweiz)
    Für die in Wien erscheinende Zeitung "Die Presse" ist die eingeleitete Trennung von Kanzlerschaft und Parteivorsitz ein "fataler Fehler":
    Sie bedeutet einen 'Autoritätsverlust auf ganzer Linie' und den 'Anfang vom Ende' einer Kanzlerschaft. Es ist eine brutale Analyse. Sie stammt von Angela Merkel, aus dem Jahr 2004. Parteivorsitz und Kanzlerschaft gehören zusammen: Das war ein ehernes Prinzip der deutschen Regierungschefin. Sie wiederholte es immer wieder. Bis gestern, als die mächtigste Frau Europas ihre Grundsätze brach und nach 18 Jahren an der Spitze der CDU ihren Verzicht auf das Amt des Parteichefs kundtat. Im Angesicht von Umfragetiefs und Wahlpleiten räumte Merkel auch ein zweites ihrer Machtprinzipien ab: Nenne kein Ablaufdatum! 'Die vierte Amtszeit ist meine letzte', sprach die Kanzlerin. Angela Merkel hätte besser bei Angela Merkel nachgelesen. (Die Presse, Österreich)
    Der britische "Guardian" kommt zu diesem Schluss:
    "Frau Merkel hat die Politik in Deutschland so lange dominiert, dass ihr Rückzug sicherlich traumatisch sein dürfte. Sie hat sich konsequent für das Modell der Sozialen Marktwirtschaft eingesetzt. Die Wirtschaftskraft ihres Landes hat viele Deutsche vor jenen Belastungen geschützt, denen andere Nationen ausgesetzt waren. Aber die Migrationskrise von 2015 - bei der Frau Merkel einen liberalen, pragmatischen Kurs verfolgte - hatte Folgen, die sie letztlich nicht bewältigen konnte" (The Guardian, Großbritannien)
    Und die "Times" aus London erwartet schwere Zeiten:
    "Merkels langer Abschied läutet eine Periode der Instabilität in der größten Volkswirtschaft Europas ein. Der Machtkampf um ihre Nachfolge als Parteivorsitzende - sowie als Regierungschef - wird wahrscheinlich chaotisch. Innerhalb von wenigen Minuten nach ihrer Erklärung meldeten sich bereits drei Anwärter. Doch wie auch immer: Merkel hat gesagt, sie wolle die restlichen drei Jahre Bundeskanzlerin bleiben, falls sie nicht im Falle vorgezogener Neuwahlen abtreten sollte. Die könnte es bereits im kommenden Jahr geben, sollte ihre Große Koalition zerbrechen. Merkel weigerte sich, einen Kandidaten öffentlich zu unterstützen, das Wettrennen um ihre Nachfolge an der Führungsspitze dürfte heftig werden." (The Times, Großbritannien)
    Die belgische Zeitung "De Standaard" fragt:
    "Wenn Merkel als CDU-Vorsitzende zurücktritt, sollte nicht auch Horst Seehofer als Chef der bayerischen CSU ihr folgen? Es ist keineswegs sicher, dass sich die deutsche Politik bald wieder in ruhigerem Fahrwasser befindet und Merkel, wie sie hofft, noch drei Jahre Kanzlerin bleiben kann." (De Standaard, Brüssel)
    "Jutarnji list" aus Zagreb befürchtet:
    "Sollte Innenminister Seehofer von der CSU im Kabinett bleiben, dürfte die Bundesregierung weiter geschwächt werden. Seehofer wird eine Kanzlerin auf Abruf nicht ernst nehmen. Er wird sich noch mehr trauen, falsche und für Deutschland schädliche Entscheidungen treffen." (Jutarnji list, Kroatien)
    "Rzeczpospolita" aus Warschau beschäftigt mit den Konsequenzen für Europa und titelt "Was folgt nach Angela Merkel? – Interregnum in der EU":
    "Die Kanzlerin ist unbestritten die Königin Europas. Es gibt in der EU keinen Regierungschef, der im Europäischen Rat länger dabei ist als Angela Merkel. Sie nahm an unzähligen EU-Gipfeln, bilateralen Begegnungen und Regionaltreffen teil. Traditionell sprach man in Europa immer von einem deutsch-französischen Motor, doch über viele Jahre der Ära Merkel war es im Grunde ein ausschließlich deutscher Motor. Wer auch immer der neue deutsche Bundeskanzler sein wird, wird weder die Erfahrungen noch die Glaubhaftigkeit Angela Merkels haben." (Rzeczpospolita, Polen)
    Und auch die "New York Times" würdigt Merkels außenpolitischen Verdienste:
    "Sie ist eine starke Fürsprecherin der Europäischen Union, der Nato und einer auf Regeln basierten internationalen Ordnung. Unter ihr hat Deutschland seine Rolle in der internationalen Sicherheitspolitik ausgebaut. Und Frau Merkel hat sich verpflichtet, dass Deutschland seine Militärausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen wird. Eine Umfrage des Pew Research Center in 25 Ländern ergab, dass 52 Prozent der Befragten mehr Vertrauen in Frau Merkel hatten als in die Staats- und Regierungschefs aus Frankreich, Russland, China und den USA. Ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin wird es nicht leicht haben, zumal große Herausforderungen bevorstehen. Frau Merkel tut das Richtige, indem sie zurücktritt. In letzter Zeit sahen sie und ihre Koalition müde aus. Ihre Umfragen sind gesunken, und über 13 Jahre sind mehr als genug für jeden politischen Führer. Und die besten Führungskräfte sind diejenigen, die wissen, wann es Zeit zum Ausstieg ist." (New York Times, USA)