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Internationales Literaturfestival Berlin
Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart

Noch nie ging es den Menschen global gesehen so gut, noch nie war der Wohlstand allerdings so ungleich verteilt. Die Dauerkrise des Kapitalismus und die steigende Politikverdrossenheit beschert Populisten und Apokalyptikern Aufschwung. Das Internationale Literaturfestival Berlin machte sich auf die Suche nach Lösungen.

Von Cornelius Wüllenkemper | 14.09.2016
    Der US-amerikanische Anthropologe und Autor David Graeber stellt am 23.05.2012 sein Buch "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" im Kulturkaufhaus Dussmann in Berlin vor.
    David Graeber beschäftigt sich in seinem Werk "Utopie der Regeln" mit dem Menschenbild, das dem modernen Finanzkapitalismus zugrunde liegt. (picture-alliance / dpa / Xamax)
    Einen krisenhaften Vertrauensverlust in der Mehrheitsgesellschaft diagnostiziert der Autor Bastian Asdonk in seinem Debutroman "Mitten im Land".
    "Es gibt eine Frustration, und die gibt es auch zu Recht. Die Institutionen sind sehr, sehr weit weg von dem eigenen Befinden. Das Problem ist nur, dass es so eine Wendung bekommt, dass die Lösung dieser Fragen die Vergangenheit ist, die Rekursion auf nationale Identität, und wenn wir unter uns bleiben, dann sind diese Problem eben gelöst."
    Mögliche Lösungen für die kapitalistisch-liberale Gesellschaft
    Naiv-simple simple Antworten auf die drängenden Fragen der Gegenwart sind in Zeiten globaler Unübersichtlichkeit längst in der gesellschaftlichen Mitte angekommen, so scheint es. Auf dem Symposium "Ungleichheit im 21. Jahrhundert. Fortschritt, Kapitalismus und globale Armut" boten auf dem Literaturfestival US-amerikanische Wirtschaftsgelehrte wissenschaftlich durchdachte Lösungen für die Sinnkrise der kapitalistisch-liberalen Gesellschaften an.
    "Es hat keinen Sinn, Fortschritt zu befürworten und Ungleichheit zu verdammen, denn beide gehen immer Hand in Hand, da haben wir keine Wahl. Die Konservativen sagen jetzt: Ungleichheit treibt die Menschen an, hart zu arbeiten! Allerdings haben wir es heute mit einer sehr viel negativeren und gefährlicheren Art der Ungleichheit zu tun. Denn monetärer Erfolg hat heute oft weniger mit harter Arbeit und tollen Innovationen zu tun, als mit Lobbyarbeit und der Bestechung von politischen Entscheidungsträgern auf Kosten der Allgemeinheit," meint etwa der britisch-US-amerikanische Ökonom Angus Deaton, der in seinem im kommenden Frühjahr erscheinenden Werk über den "Großen Ausbruch" eine Reihe an Lösungsvorschlägen unterbreitet, von staatlich garantierten Arbeitsplätzen über strengere Kontrolle von Kreditvergabe an private Haushalte bis zu einem globalen Steuersystem, das sich am Gesamtvermögen orientiert.
    Der US-amerikanische Politikwissenschaftler und bekennende Anarchist David Graeber beschäftigt sich in seinem Werk über Bürokratie und die "Utopie der Regeln" mit dem Menschenbild, das dem modernen Finanzkapitalismus zugrunde liegt.
    "Ich habe gelernt, die Sowjetunion sei zusammengebrochen, weil die Machthaber ein falsches Menschenbild hatten. Sie erschufen Regeln, die den Weg zum 'Neuen Menschen' weisen sollten. Und wenn das nicht funktionierte, änderte man nicht die Regeln, sondern sperrte die Menschen ein. Genau so funktioniert heute der Finanzkapitalismus. Die Banker von JP Morgan machen 65% ihrer Bilanzsumme durch Gebühren und Strafgelder! Zuerst verfassen sie an der Seite der Regierung neue, eigentlich unerfüllbare Richtlinien. Und wenn ihren Kunden die nicht einhalten, werden sie mit hohen Strafzahlungen bestraft.
    Griffige Ideen zum Mitnehmen
    Beim Symposium über die wachsende Ungleichheit als Folge des globalen Finanzkapitalismus konnten die Zuhörer einige griffige Ideen mit nach Hause nehmen. Aufhorchen ließ etwa auch die Analyse des US-amerikanischen Ökonomen Michael Hudson. Bereits 2006 hatte Hudson als einziger Wirtschaftsexperte auf das drohende Platzen der Spekulationsblase im US-Immobilienmarkt aufmerksam gemacht. In Berlin warnte er:
    "Das Geld der EZB geht ausschließlich an die Banken und deren Stabilisierung. Wenn das so weitergeht, wird es in Deutschland, Frankreich und Italien bald genauso aussehen wie in Griechenland. Das ist Ihre Zukunft!"
    Mit dem Symposium und der neuen Sparte "Sciences and Humanities" etablierte sich das Internationale Literaturfestival Berlin in diesem Jahr endgültig als Plattform wissenschaftlicher Dispute und gesellschaftlicher Fragen. Für die Literatur- und Buchszene scheint man sich so tatsächlich unentbehrlich zu machen.