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Internationales Literaturfestival Berlin
"Die Geschichte Europas ist unsere afrikanische Gegenwart"

Postkoloniale Literatur ist ein Schwerpunkt des diesjährigen Literaturfestivals Berlin. In ihrer Eröffnungsrede erinnert die Schriftstellerin Petina Gappah an die verbindende Kraft der Literatur. Der historische Roman könne helfen, "mit Empathie und Mitgefühl die Vergangenheit zu verstehen".

Von Cornelius Wüllenkemper | 12.09.2019
Die Schriftstellerin Petina Gappah zu Gast im Deutschlandfunk Kultur
Stimmmächtig: Die Schriftstellerin Petina Gappah hielt die Eröffnungsrede beim Literaturfestival Berlin (Deutschlandradio - Andreas Buron)
Petina Gappah spiegelte idealtypisch den Anspruch des Festivals, als "gesellschaftlicher Seismograph" zu fungieren. Gappah, die viele Jahre als Juristin bei der Welthandelsorganisation in Genf arbeitete, begann vor zehn Jahren, die Missstände in ihrer Heimat Simbabwe in Erzählungen, Romanen und Essays anzuprangern. Nachdem der langjährige Diktator Robert Mugabe abgesetzt worden war, kehrte Gappah im vergangenen Jahr in ihre Heimat zurück. Dass sie für das aktuelle, international kritisierte Regime unter Emmerson Mnangagwa als Beraterin tätig war, wurde ihr unlängst in der "Süddeutschen Zeitung" angekreidet. In ihrer Eröffnungsrede beim Berliner Literaturfestival bezog Gappah erstmals öffentlich Stellung zu den Vorwürfen:
"Meine Gründe, nach Simbabwe zurückzukehren und mitzuhelfen, sind dieselben, aus denen ich kritisch über mein Land geschrieben habe. Ich möchte in einem Simbabwe leben, das fair und gerecht ist, das Menschenrechte und Gleichheit respektiert und das integrativ ist. Die Rückkehr nach Simbabwe bedeutete, mit einem Regime zusammenzuarbeiten, mit dessen Politik und Haltung ich nicht immer einverstanden war. Doch ich wollte die Chance ergreifen, Veränderung zu sein, und nicht nur über die Notwendigkeit von Veränderung zu schreiben."
Vertreterin der postkolonialen Aufarbeitung
Für die vom Festival explizit gesuchte politische Auseinandersetzung war also gesorgt. Gappahs Auftritt als stimmmächtige Vertreterin der postkolonialen Aufarbeitung erfuhr durch die herablassende Kritik an ihrer Tätigkeit für die Regierung Simbabwes eine zusätzliche Aufwertung. Denn wer den klügsten Köpfen eines in Armut und Unterdrückung erstarrten Landes die Mitwirkung an der Veränderung abspricht, der legt eine postkoloniale Attitüde der schulmeisterlichen Bevormundung an den Tag, gegen die der zeitgenössische Postkolonialismus sich auflehnt. Gappah, die im Laufe ihrer Rede vom Deutschen ins Englische wechselte, führte dem Publikum einmal mehr die mentalen Spätfolgen der deutschen Kolonialgeschichte vor Augen:
"Ihre Geschichte, die Geschichte Europas, ist unsere afrikanische Gegenwart. Der Kolonialismus hörte mit der Unabhängigkeit afrikanischer Nationen nicht einfach auf. Die größten Schäden verursachte er nicht durch die physische Umformung der afrikanischen Nationen, sondern mit dem binären Gegensatz, den er erzeugte zwischen dem Selbst und dem Anderen, zwischen Weiß und Schwarz, Gut und Böse, Höherwertig und Minderwertig."
"Literatur lesen, das einzige richtige Mittel"
Sie wolle niemanden geißeln oder über die Geschichte belehren, so Gappah. Auch sei sie keine Verfechterin finanzieller Reparationen für koloniales Unrecht. Als Juristin für internationales Handelsrecht plädierte sie vielmehr für mehr Gerechtigkeit in Europas Partnerschaftsabkommen mit Afrika und für Investitionen, die vor Ort nicht in Ausbeutung münden. Eindringlich betonte Gappah zugleich in ihrer Eigenschaft als Schriftstellerin:
"Jenseits von Regieren und Staatskunst, jenseits von Reparationen und globaler Gerechtigkeit können wir, so möchte ich postulieren, alle etwas tun: und das ist lesen. Geschichte lesen, besonders, wo sie von Subalternen geschrieben ist. Und Literatur lesen: das einzige richtige Mittel, um Zugang zur Seele eines anderen zu finden. Ich glaube, dass der historische Roman uns helfen kann, mit Empathie und Mitgefühl die Vergangenheit zu verstehen."
In ihrem aktuellen Roman "Aus der Dunkelheit strahlendes Licht", den sie in Berlin geschrieben hat und heute Abend auf dem Festival präsentieren wird, tut Petina Gappah genau das. 135 Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz erzählt sie die Geschichte der 69 "dunkelhäutigen Gefährten", die den Leichnam des berühmten Afrika-Forschers David Livingstone aus dem Inneren des Kontinents bis an die Küste transportierten, damit man ihn zurück in seine Heimat verschiffen konnte. Der Auftakt des Festivals geriet so zu einer lebendigen Bestätigung von dessen Kernidee, nämlich der unmittelbaren Gegenüberstellung politischer und literarischer Lebenswelten.