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Internatsroman
"Moralischer Furor schadet"

Anselm Neft erzählt im Roman "Die bessere Geschichte" von sexueller Gewalt an einem reformpädagogischen Internat. Die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verschwimmen. Empörung über die Taten führe nicht zum Guten, sagt der Jesuitenschüler. Die Öffentlichkeit solle auch den Schuldigen zuzuhören.

Anselm Neft im Gespräch mit Christiane Florin | 07.05.2019
Schatten einer Hand einer erwachsenen Person und der Kopf eines Kindes an einer Wand eines Zimmers.
"Ich habe versucht, Betroffene ernst zu nehmen in ihrer Zerrissenheit zwischen ganz verschiedenen Emotionen und Gefühlslagen", sagt der Schriftsteller Anselm Neft. (dpa / Patrick Pleul )
Christiane Florin: Wer die Freie Schule Schwanhagen besucht, soll lernen, ein freier Mensch zu werden. Die Internatsschülerinnen und -schüler leben in Wohngruppen, "Familien" genannt, mit Lehrerinnen und Lehrern unter einem Dach. Die Familie von Salvador und Valerie Wieland umgibt eine besondere Aura. Hierhin verschlägt es den 13-Jährigen Tilman. Oder treffender: Der Junge wird von den Wielands auserwählt. Er lernt: Wer ein freier Mann werden will, muss dem Ehepaar sexuell zu Diensten sein.
Dieses Szenario ist teils erfunden, teils gefunden. Der Schrifsteller Anselm Neft verbindet in seinem Roman "Die bessere Geschichte" Fiktion und Nachrichtenlage. Ich habe Anselm Neft vor dieser Sendung interviewt. Und ich wollte zunächst einmal von ihm wissen, wie er das nennt, was er erzählt: eine Geschichte sexualisierter Gewalt, sexuellen Missbrauchs, oder….
Anselm Neft: Ich würde da schon von sexueller Gewalt sprechen. Das ist auch nur ein Behelfskonstrukt, aber bei sexualisierter Gewalt liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der Gewalt. Bei sexueller Gewalt halten sich Sex und Gewalt die Waage. Ich möchte das nicht trennen, weil es ja einfach sein kann, dass für manche Leute das übergriffige Moment, das verführende Moment, das ermächtigende Moment eben genau das Erotische ist. Wohingegen es bei der sexualisierten Gewalt einfach darum geht, Leute zu demütigen. Man benutzt dazu sexuelle Vorgehensweisen, weil die sich als besonders demütigend in unserer Kultur erweisen.
Anselm Neft: "Die bessere Geschichte"
Zu sehen ist das Buchcover und der Autor.
Aber da sind wir schon bei einer spannenden Frage, nämlich was der richtige Begriff ist für diese Art von Vergehen. Das Wort Missbrauch, das ja häufig benutzt wird, hat zwei Probleme, denke ich: zum einen, dass es die Betroffenen zu Gegenständen macht, die unsachgemäß gebraucht worden sind – im Vergleich zum sachgemäßen Gebrauch. Das andere Problem ist, dass damit ein großes Spektrum an Phänomenen abgedeckt wird. Das reicht von Vergewaltigung bis hin zu einem 18-Jährigen, der eine 12-Jährige versucht zu küssen und dabei nicht rechtzeitig mit seinen Avancen aufhört. Da müsste man dann im Einzelnen auch journalistisch immer wieder differenzieren, was ziemlich knifflig sein kann, wenn man über allgemeine Phänomene, wie in der katholischen Kirche, spricht, wo das Spektrum dann eben auch sehr groß ist.
Florin: Wir sprechen aber jetzt zunächst einmal nicht über die Katholische Kirche, sondern über ein Internat, das sich der Reformpädagogik verschrieben hat.
Neft: Ja, ein fiktives Internat.
Florin: Ein fiktives Internat, aber die Gemeinsamkeiten mit der Odenwaldschule sind nicht zu überlesen. Dieses Konzept mit den "Familien", das war dort auch.
Neft: Genau, ja.
"Betroffene ernst nehmen in ihrer Zerrissenheit"
Florin: Der Protagonist, ein 13-jähriger Junge, Tilman, ist eine leichte Beute, weil er keine wirkliche eigene Familie hat oder nicht das, was man als Geborgenheit in der Familie bezeichnen würde. Ist er auf der Suche nach einem Ersatzvater, einer Ersatzmutter?
Neft: Er ist auf jeden Fall – so, wie viele Jugendliche oder eigentlich alle – auf der Suche nach einer Identität. Die findet man auch schon in guten Familien mit 13, 14 nicht mehr unbedingt im Elternhaus, sondern sucht sich neue Bezugsgruppen, hat aber, wenn man Glück hat, noch eine Anbindung an ein liebevolles Elternhaus. Das hat Tilman nicht. Ich muss noch dazusagen, dass, auch wenn hier manches an die Odenwaldschule erinnert, dieses Buch überhaupt kein Schlüsselroman ist. Ich hatte nicht vor, reale Vorkommnisse dann irgendwie leicht verklausuliert abzubilden, sondern die Essenz zu finden und darzustellen.
Florin: Was ist die Essenz?
Neft: Die Essenz ist eine unglaubliche Ambivalenz, die die Betroffenen erleben und die sie auch heute noch selten so äußern dürfen, weil man gesellschaftlich eigentlich sagt: Das ist etwas ganz, ganz Schlimmes, das ist ganz, ganz böse. Deswegen darf es entweder gar nicht vorkommen – vor allem nicht im Nahbereich bei Leuten, die man sympathisch findet – oder aber es muss ganz eindeutig besprochen werden. Dass aber Betroffene vielleicht eine innige, wenn auch auf falschen Prämissen aufbauende Verbindung zu den Menschen haben, die sie dann auch sexuell benutzen, oder dass sie die Sexualität selbst als gleichermaßen interessant wie verstörend erleben können, mal als mehr oder als weniger gewalttätig, mal als einen Preis, den man bezahlt, mal als Aufmerksamkeit und Zuwendung, die sie bekommen, ganz besondere Exklusivität, das ist dann schon wieder zu viel für den öffentlichen Diskurs. Und da habe ich versucht, Betroffene mal ernster zu nehmen in ihrer Zerrissenheit zwischen ganz verschiedenen Emotionen und Gefühlslagen.
"Es geht auch um Männlichkeit"
Florin: Tilman empfindet sich zunächst jedenfalls nicht als Opfer oder als Betroffener einer Straftat, obwohl das, was mit ihm geschieht, sexueller Missbrauch ist, es ist eine Straftat.
Neft: Ja, also das wäre aber auch nach heutigen Maßstäben nicht nur disziplinarrechtlich relevant, sondern auch tatsächlich strafrechtlich, was da passiert. Da könnte man mit Gefängnisstrafen konfrontiert werden. Und auch zu Recht, wie ich denke. Ja, er sieht sich nicht als Betroffener. Es geht da auch ein bisschen um Männlichkeit, um einen sehr sensiblen, ängstlichen, feinfühligen, verträumten Jungen, der durchaus mitbekommt, dass das Männerbild – auch dann noch in den 90ern – etwas anderes von ihm erwartet. Und er nutzt die Gelegenheit, hart zu werden. Dazu gehört eben auch, Dinge mit sich machen zu lassen, die man nicht will.
Florin: Sie haben vorhin darauf hingewiesen: Zu viele Gemeinsamkeiten mit der Odenwaldschule möchten Sie nicht in dem Roman sehen. Es ist kein Schlüsselroman. Aber trotzdem, wenn ich jetzt mal die wissenschaftlichen Arbeiten zur Odenwaldschule nehme, von denen es ja einige gibt, dann kommt da heraus, wir reden bei den Intensivtätern von Tätern, also von Männern. Warum war es Ihnen wichtig, dass es auch eine Täterin gibt? "Valerie".
Neft: Der Täter in meinem Roman, der Haupttäter, unterscheidet sich von Gerold Becker und anderen von der Odenwaldschule dadurch, dass er weniger gewalttätig ist.
"Frauen sind als Täterinnen unterrepräsentiert"
Florin: Und verheiratet ist er.
Neft: Und verheiratet und weniger verführend. Ich meine, Gerold Becker hatte auch eine Beziehung zu einem Erwachsenen, mit Hartmut von Hentig. Also, das sind schon unterschiedliche Tätertypen. Das muss man sagen. Frauen sind als Täterinnen sehr unterrepräsentiert, was weniger daran liegt, dass Frauen nicht auch Kinder und Jugendliche traumatisieren. Es passiert aber anders. Ich nenne mal ein Beispiel. Eine junge überforderte Mutter, die ihre eigenen Grenzen nicht kennenlernen durfte, vielleicht selbst Opfer von irgendeiner Form von Missbrauch ist, ist obendrein noch in einer schlechten Ehe und klammert sich ganz stark an ihren Säugling, knuddelt den wie ein kleines Tierchen und merkt überhaupt nicht, wann dessen Grenzen an Berührung längst überstiegen sind. Das wirkt jetzt nicht gewalttätig und es ist auch keine böse Absicht dahinter. Das ist einfach Hilflosigkeit und Unwissen. Das kann für ein Kind aber sehr beschädigend sein, wenn es immer wieder mit Körperreizen überflutet wird, die es selber nicht regulieren kann und die Mutter kein Gefühl für die Grenzen von einem Säugling hat.
Es gibt diese Mütter, die ihre Jungs vor allen Dingen sehr lange auf den Mund küssen, mit dem im selben Bett schlafen, die als Ersatzehemänner haben, da eher mit Schuldgefühlen und emotionaler Aufwertung arbeiten als mit Gewalt. Das ist ein breites Spektrum, was eigentlich zu emotionalem, psychosexuellem Missbrauch gehört, das aber aufgrund unserer eigentlich auch noch patriarchalischen Männer- und Frauenbilder selten zur Kenntnis genommen wird. Patriarchal bedeutet in dem Falle, wir sehen Frauen als Opfer, also als Beute, und die Männer als Raubtiere und als Täter und halten uns da manchmal für besonders progressiv, wenn wir auf den Männern rumhacken. Wir haben da auch oft recht mit, übersehen aber, wie sehr wir eigentlich patriarchale Logik reproduzieren, um mal so einen Begriff aus dem Feminismus zu verwenden.
Florin: Das heißt also, Täterinnen waren Ihrer Ansicht nach bisher unterrepräsentiert?
Neft: Sind unterrepräsentiert. Es ist auf jeden Fall mal wichtig, den Blick auch darauf zu lenken, um die Komplexität des Themas zu erhöhen und nicht bei so alten Stereotypen-Zuschreibungen vom bösartigen Mann hängezubleiben.
Die Rolle der 68er
Florin: Kommen wir auf die Ideologie zu sprechen, die dahinter steht. Sexuelle Gewalt, sexueller Missbrauch ist nichts, was in dieser "Familie Wieland" schamhaft verschwiegen wird, sondern das wird als Bewusstseinserweiterung verstanden oder auch als Erwachsenwerden.
Neft: Ja.
Florin: Als etwas, mit dem man innere Stärke gewinnt.
Neft: Genau.
Florin: Nun hat kürzlich Joseph Ratzinger, der frühere Papst Benedikt, den 68ern die Hauptschuld gegeben, hat gesagt, die haben die Gesellschaft sexualisiert und damit auch sexueller Gewalt Vorschub geleistet, dass es da gar keine Grenze mehr gab, wann Sexualität in Ordnung ist und wann nicht. Würden Sie ihm da zustimmen?
Neft: Sagen wir mal: In der Zeit, die Joseph Ratzinger da vielleicht eher idealisiert, als die katholische Kirche noch einen größeren Einfluss auf die Gesellschaft hatte, wo die Leute zumindest auf dem Papier noch frommer waren, da hätte seiner Meinung nach die sexuelle Gewalt, überhaupt die Gewalt geringer sein müssen, weil die Menschen eben sich von Gott getragen, aber auch beobachtet fühlen und man, ja, einfach diese Art von Sünde nicht begehen will bzw. auch nicht so kompensieren muss, weil man ja einen starken Glauben hat, der einen davor bewahrt. Diese Zeiten scheint es aber nicht gegeben zu haben. Alles, was wir über Kindheit vor 1968 wissen, ist nur noch viel grauenhafter. Also, wenn man von Philippe Ariès die "Geschichte der Kindheit" liest beispielsweise oder sieht, wie Kinder mit sieben Jahren verheiratet worden sind oder wie häufig sie geschlagen wurden, dann kann mir kein Mensch erzählen, dass vor den 68ern der Kinderschutz irgendwie ein Leib-und-Magen-Thema auch innerhalb der katholischen Kirche gewesen wäre. Das ist schlicht und ergreifend, ich würde sagen, relativ gefährlicher Unsinn, das zu meinen. Auch, wenn ich den idealistischen Standpunkt von Joseph Ratzinger verstehen kann, der aus einer bestimmten Gläubigkeit kommt, die sagt, wenn wir alle mehr glauben würden, dann gäbe es doch weniger Schrecklichkeiten.
Florin: Ja, aber die beiden Wielands sind doch 68er.
"Der Täter gibt dem Kind die Schande"
Neft: Sie sind eher 68er, das stimmt. Deswegen ist das auch kompliziert. Denn die Zeit vor den 68ern, würde ich sagen, hat sexuelle Gewalt so stark tabuisiert, dass sie einfach im öffentlichen Bewusstsein nicht stattfand. Man wusste, dass das passiert, aber man hat im Prinzip die Täter gedeckt und die Opfer alleingelassen, weil man sagte: Bitte nicht drüber reden, das ist so eine Schande. Es gibt ja auch das Wort Kinderschänder. Das heißt, der Täter gibt dem Kind die Schande. Und das soll dann nicht die Eltern beschämen damit. Da hat man einfach die Klappe gehalten. Aber in den 68ern gab es eine neue Idee von Sexualität, nämlich dass sie, eigentlich egal in welcher Spielart, befreiend ist, und dass sie entnazifizierend wirkt. Das heißt, die Menschen müssen sich nur locker machen, dann passiert so was Schlimmes wie der Faschismus in Deutschland nie wieder. Dabei hat man dann vermutlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und hat das, was wir heute Übergriffigkeit nennen, als locker angesehen und die Gegenwehr dagegen als verklemmt und spießig.
Ich würde sagen, die Wielands in meinem Roman sind nicht reine Hippies, sie sind auch Sozialdarwinisten und Esoteriker und haben so eine Art – ich würde sagen – satanistische Philosophie, dass der starke Mensch seinen eigenen Willen schafft und der schwache dient und geht vielleicht daran zugrunde.
Florin: Sie selbst sind Jesuitenschüler, waren in Bonn auf dem Ako (Aloisiuskolleg), eine Schule, die auch durch sexuelle Gewalt aufgefallen ist. Das ist öffentlich geworden. Warum hat es Sie nicht so gereizt, sich diese Schule, dieses Internat zum literarischen Vorbild zu nehmen?
"Ein reformpädagogisches Internat - das ist das Schreckensmoment größer"
Neft: Das hat zwei Gründe: Der eine besteht darin, dass ich selber nicht im Internat gewesen bin, und wenn ich dann relativ nah an den Fakten über diese Schule berichtet hätte, hätte ich das Gefühl gehabt, ich maße mir da was an, ich eigne mir da was an, ohne die konkrete Autorität dazu zu besitzen. Der andere Punkt ist, dass Internate, die jesuitisch oder anderweitig katholisch gefärbt sind, als Stätten von Gewalt und sexueller Gewalt in der Literatur deutlich stärker repräsentiert sind und uns auch heute weniger schockieren, weil der größte Teil der Gesellschaft sagt: "Ja, dass die katholische Kirche schreckliche Menschen produziert, das wissen wir." Und das ist ein Auslaufmodell für viele.
Die Reformpädagogik hingegen hat einen spannenden Ansatz, der für viele heute noch interessant ist, wo man sagt. Das heißt, da ist das Schreckensmoment größer. Und es hat auch mehr mit unserer Gesellschaft zu tun. Auch mit dem sogenannten neoliberalen Zeitgeist, nämlich: "Tu, was du willst" und "finde dich selber" und "jeder kann, wie er möchte". Das ist näher am Puls der Zeit.
Florin: Welches sind die Risikofaktoren dafür, dass Kindern und Jugendlichen das passiert, was Tilman passiert?
Neft: Erst mal ein ganz banaler: Das Hauptrisiko für Kinder und Jugendliche ist einfach, an Täter zu geraten. Das passiert leichter, wenn es abgeschlossene, intransparente, in irgendeiner Form elitäre Zirkel gibt, die nicht mehr hinterfragt werden können. Seien es die Zeugen Jehovas, sei es eine Koranschule, sei es ein ganz toller Sportverein, eine Ballettschule, sei es Hollywood, wo es um ganz große Leistung geht. Das heißt, nur die Besten kommen irgendwie weiter. Und an den Toren zu diesen Weiterkomm-Stationen stehen bestimmte Menschen, die vielleicht sehr charismatisch sind oder die von vielen Leuten sehr viel Macht und sehr viel Know-how zugeschrieben bekommen. Und, wenn diese Menschen sich gerne an Kindern und Jugendlichen vergehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie damit durchkommen, ziemlich groß.
"Die Rechtfertigungsideologie kann anziehend sein"
Florin: Also, geschlossene Systeme?
Neft: Genau, geschlossene Systeme, ja.
Florin: Die auch von außen nicht kontrolliert werden, sondern denen ein gewisser Goodwill entgegengebracht wird.
Neft: Ja.
Florin: Eine wohlwollende oder sogar überhöhende Betrachtung.
Neft: Genau, viel, was man über Sekten sagt, nämlich dass sie sich auch gegen Kritik von außen selbst immunisieren, weil sie eigentlich ein bisschen über dem Gesetz stehen. Dass man sagt: Ja, die Spießer sagen ja, das wäre nicht so toll, aber wir wissen ja, dass Sex und Drogen für Jugendliche nicht schädlich sind, sondern eine ganz tolle Sache sind. Es gehört immer so ein Selbstbild dazu, das die Menschen, die Gewalt anwenden oder übergriffig sind, eben auch mit einer Rechtfertigungsideologie versieht, die wiederum für die Betroffenen anziehend sein kann. Das hat eine doppelte Funktion, wenn ich eine kleine Sektenlehre entwickele. Die schützt mich selber vor der Auseinandersetzung mit den Fehlern, die ich da begehe. Und sie lockt die anderen noch eher in meine Fänge, um es mal so zu sagen.
Florin: Nun haben Sie kein Sachbuch zur sexuellen Gewalt geschrieben, sondern einen Roman. Trotzdem kommt es Ihnen auf dieses Thema an. Also, Sie möchten schon auch was über dieses Thema an die Öffentlichkeit bringen. Was kann da der Roman, was ein Sachbuch nicht kann?
"Sprachbilder, die sehender machen"
Neft: Ich glaube, dass man in einem Roman ein paar Freiheiten hat. Und, wenn man die nutzt, führen sie zu einem tieferen Verständnis bei der Leserschaft. Eine Sache ist die Sprache: Bei einem Sachbuch versuche ich, eine Alltagssprache zu benutzen. Im Roman kann ich etwas ungewöhnlichere Sprachbilder benutzen, die sehender machen. In der modernen Kunst sagt man dann so Sehgewohnheiten aufbrechen, denn wenn man Alltagssprache benutzt, dann ist es eben auch alltägliches konventionelles Denken. Wenn ich plötzlich einen anderen Begriff habe als den, den man normalerweise benutzt, dann muss mein Denken auch eine neue Bahn beschreiten. Das geht auch damit weiter, dass ein literarisches Buch Dinge nicht so ausformulieren muss, sondern mit Andeutungen arbeitet, die vielfältige Perspektiven ermöglichen. Das heißt, die Leserschaft macht selber mehr mit bei dem Entstehungsprozess der Geschichte. Und durch dieses Sich-selbst-einbringen als Leser können bestimmte Inhalte tiefer, nachhaltiger und persönlicher verankert werden.
Florin: Das Literarische ermöglicht auch, diese Ambivalenz künstlerisch anzugehen: Die ambivalenz, dass es eben gar nicht so leicht ist, am Ende zu urteilen: Wer ist jetzt Täter, wer Opfer? Obwohl das Strafrecht – wie Sie ja vorhin auch gesagt haben – da eindeutig ist. Ich würde jetzt gern eine Stelle aus einem Gespräch einspielen, das ich mit dem katholischen Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann kürzlich geführt habe.
Eugen Drewermann: Man verführt keine Kinder, keine Jugendlichen, ohne dass man selber unreif geblieben wäre. Das ist so fatal, weil subjektiv es ganz schwer ist, aus der Falle herauszukommen, wenn man erst mal drin ist.
Florin: Aber, wenn Sie sagen, Tragödie, Leiden, damit machen Sie auch die Täter zu Opfern.
Drewermann: Absolut. Und das meine ich jetzt in vollem Ernst. Wir hätten Gelegenheit, mal über unsere Art des Strafrechts nachzudenken, über unsere Schuldsprüche, über unsere zweiwertige Moral. Simpel gesagt, wir teilen die Welt in zweiwertiger Logik nach Gut und Böse ein. Wir unterstellen praktischerweise auch, dass die Menschen frei sind. Und, wenn sie wissen, was Gut und Böse ist und tun trotzdem das Böse, in Freiheit, wie wir annehmen, sind sie zu bestrafen. Und je schlimmer das Vergehen, desto strenger. Das ganze bürgerliche Bewusstsein ist darauf aufgebaut. Das Christentum denkt vollkommen anders. Auch die Botschaft Jesu ist eine völlig andere. Die Menschen, die Böses tun, sind nicht böse. Sie wollen das nicht. Sie sind im Grunde wie Verlorene, Verlaufene, Verzweifelte.

Aus: Drewermann über die katholische Kirche - "Mir tun die Kleriker leid"- Deutschlandfunk, Tag für Tag, 22.04.2019).
Florin: In Ihrem Buch klingt das so ähnlich mit der Verführung und mit diesen verschwimmenden Grenzen zwischen Opfer und Täter. Denn Sie schreiben:
"Werden wir nicht deshalb so oft zu schuldigen Tätern, weil wir uns als ohnmächtige Opfer fühlen, bis wir schließlich tatsächlich wieder zu Opfern werden, wenn uns die Gesellschaft zu Sündenböcken ernennt, also jenen unter allen Schuldigen, die bestraft werden müssen? … Diese Welt kann gar nicht anders, als Verführer hervorzubringen, denn wie sollte es sonst eine freie Wahl geben? Wer aber trifft wissend und freiwillig die Wahl, ein Verführer zu sein?"

Aus Anselm Neft: Die bessere Geschichte
Florin: Heißt das, jeder ist Opfer in einem geschlossenen System, wie Sie es beschreiben, und hat eigentlich keine persönliche Verantwortung für das, was er tut?
"Von Leid werden Menschen zugerichtet"
Neft: Ich glaube, jeder Mensch ist Opfer und hat trotzdem eine persönliche Verantwortung. Das mag paradox klingen, aber was ich mit Opfer meine, ist: Wir suchen uns weder aus geboren zu werden, noch die Familie, noch, dass wir in eine Welt kommen, die begrenzte Ressourcen hat und die Jahrmillionen davon geprägt war, dass Menschen von Raubtieren gefressen werden konnten. Das unterschätzt man ein bisschen bei der Genese der Menschheit, dass wir mit Traumata schon umgehen mussten, bevor irgendein Mensch nur irgendwas Böses gemacht hat, seien es Naturkatastrophen, seien es Krankheit und Tod, Viren. Das heißt, diese Welt an sich ist schon kein nur schöner Ort. Hier gibt es sehr, sehr viel Leid. Und davon werden Menschen zugerichtet und kommen in Situationen, wo ihr Wille gut zu sein nicht ausreicht, je nach Kontext, das auch einzuhalten. Das betrifft, glaube ich, jeden Menschen. Ich glaube, man kann mit keinem Erwachsenen reden, der sagen würde, er hat sich immer nur gut verhalten in seinem Leben.
Was aber nicht heißt, dass man nicht lernen kann und Sachen besser machen kann und deswegen persönliche Verantwortung hat. Nur, wo die jeweils anfängt, das finde ich relativ knifflig zu sagen. Wenn jemand denkt, aufgrund seiner ganzen Vorannahmen, es schadet einem Kind ja nicht, wenn ich mit dem irgendwie sexuellen Kontakt habe, dann weiß er zwar, dass die Gesellschaft das ablehnt, und dass das ein falsches Verhalten ist für die meisten, redet sich aber permanent ein: A, nein, in meinem besonderen Falle ist es ja echte Liebe. Und B, eigentlich sucht das Kind meine Nähe. Das sind so verzerrte Wahrnehmungen, die gerade bei solchen Menschen ziemlich häufig anzutreffen sind, wo man sich dann fragt: Ja, sind die jetzt deswegen schuldunfähig oder nicht? Ist nicht so leicht, darüber zu urteilen. Wir alle haben verzerrte Wahrnehmungen. Wir alle versuchen, möglichst viel Verantwortung zu übernehmen, reden uns aber auch ständig raus.
Florin: Es gibt in Ihrem Roman einen harten Schnitt. Die Internatszeit wird ausführlich beschrieben. Dann kommt dieser Schnitt. Es vergehen 27 Jahre, über die wir eigentlich nur sehr wenig erfahren. Dann setzt die Debatte ein unter den früheren Schülerinnen und Schülern: "Sollen wir nicht damit an die Öffentlichkeit gehen?" Da gibt es eine kontroverse Diskussion, weil Betroffene nicht einer Meinung sind, nur, weil sie Ähnliches erlebt haben. Worin bestünde Gerechtigkeit für Betroffene?
"Dämonisierung der Täter hilft den Betroffenen sehr, sehr wenig"
Neft: Eine Sache, die man mal sagen muss, weil das vielen gar nicht so bewusst ist, der moralische Furor und die Dämonisierung von sogenannten Missbrauchstätern hilft den Betroffenen sehr, sehr wenig. Er schadet eher häufig. Zum einen da, wo solche Taten als besonders abscheulich dargestellt werden, herrscht im Prinzip auch ein Schweigegebot, weil die Kinder oder Jugendlichen merken, das wäre jetzt so schrecklich, diesen Menschen da ans Messer zu liefern, das lasse ich besser. Zum anderen habe ich unglaubliche Schuldgefühle, weil ich merke, wenn ich darüber spreche, das Entsetzen, den Ekel, die Scham meines Umfeldes und denke: "Um Gottes willen, ich bin der Überbringer der schlechten Nachricht, eigentlich bin ich sowieso selber schuld."
Das dritte Problem ist, dass man dadurch Menschen, die wirklich pädophile und hebephile Neigungen haben, es sehr erschwert, sich zu outen, was aber ein großer Opferschutz wäre. Diese Menschen führen ein Doppelleben. Du kannst nicht irgendwo hingehen und in deinem Freundeskreis das sagen. Manche machen es. Mir hat gerade jemand einen Brief geschrieben, dass er nach der Lektüre meines Buches sich gegenüber seinem Partner geoutet hat. Aber normalerweise muss man da ein Doppelleben leben. Das ist sowohl für den Menschen selbst als auch vor allen Dingen für Kinder und Jugendliche deutlich gefährlicher. Um aber darüber sprechen zu können, braucht man ein offenes Klima, das sagt: Auch über diese Dinge können wir versuchen zu reden, ohne jemanden totschlagen zu wollen.
Florin: Sie haben den moralischen Furor kritisiert – was mich etwas überrascht, denn es ist doch jahrzehntelang überhaupt nicht darüber gesprochen worden und Täter konnten sich ihrer Sache sehr sicher sein.
"Die Bella Figure der Kirche ist wichtiger als das offene Sprechen"
Neft: Aber der moralische Furor existierte auch damals – aber anders. Es war so, dass man das für eines der abscheulichsten Verbrechen, vor allen Dingen für ein sehr ehrabschneidendes Verbrechen gehalten hat. Aber die Ehre wurde dem Opfer abgeschnitten, der vergewaltigten Frau, dem missbrauchten Kind. Das hat die Familie entehrt – dahinter steckt auch eine ganz krasse moralische Wertung – die aber, sobald das Problem dann auftaucht, es ignoriert, damit diese schlimme Sache nicht auch noch irgendwie ruchbar wird. So geht die katholische Kirche im Prinzip bis heute damit um. Die Bella Figura ist wichtiger als das offene Aussprechen. Dahinter stecken natürlich auch moralische Vorstellungen.
Heute spricht man dann darüber, aber neigt dazu, das für ein so schreckliches Vergehen zu halten immer noch, dass man den Betroffenen Räume eng macht. Die meisten, mit denen ich gesprochen habe, haben ambivalente Gefühle dazu und auch ambivalente Gefühle gegenüber sich selbst. Das ist das Zerstörerische am Missbrauch, dass man seinen eigenen Wahrnehmungen nicht mehr so ohne Weiteres traut. Dann kommen wieder andere und wollen einem sagen, wie man es jetzt zu sehen hat, wie man es zu empfinden hat. Man muss seinen eigenen Vater hassen und soll ihn auch umbringen wollen und was weiß ich. Das ist nicht so hilfreich. Man muss zuhören und Leuten ein Angebot machen und sagen: Ich nehme dich so, wie du bist und ich höre zu.
"Wir sind alle verstrickt"
Florin: Was wünschen Sie sich von der Öffentlichkeit? Zuhören – haben Sie vorhin gesagt.
Neft: Ein bisschen weniger Selbstgerechtigkeit und ein bisschen mehr Einsicht vielleicht, dass wir alle verstrickt sind in leidvolle und gewalttätige Zusammenhänge, und dass es gar nicht so hilfreich ist, mit dem Finger aufeinander zu zeigen, sondern uns gegenseitig dabei zu helfen, das Beste aus der verfahrenen Lage zu machen. Das ist sicherlich für Christen jetzt keine ganz neue Idee. Man kennt das aus dem Neuen Testament, wo Jesus sagt zu der Situation, wo die Ehebrecherin gesteinigt werden soll: Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Ich glaube, das ist ein sehr weiser Satz.
Florin: Aber das heißt: Wir sind alle kleine Sünderlein, und damit ist auch alles gleich. Also …
Neft: Nein, man muss nicht alles …
Florin: Vergewaltigung von Kindern ist dann dasselbe wie …
Neft: … wie ein Brot stehlen oder Fleisch essen. Nein, natürlich nicht. Aber wir alle wissen, dass wir direkt oder indirekt Gewalt gegen andere Leute ausüben und sollten uns deswegen mit so krassen Urteilen zurückhalten, weil die oft gar nicht so sehr aus der Motivation kommen, irgendwelchen Menschen zu helfen, sondern sich selbst von seinen Schuldgefühlen zu entlasten. Also: Prüfe deine Motive, bevor du da mit dem großen Furor kommst. Die Menschen glauben halt, wenn sie moralisch besonders massiv auftreten, dass sich dann besonders viel zum Guten bewegt. Ich sehe das aber nicht so. Ich glaube, man soll schon seinen moralischen Kompass sehr ernst nehmen und auf jeden Fall sagen: Nein, das geht überhaupt nicht. Solche Vergehen sind Verbrechen und sehr vieles davon ist sehr schädlich. Aber man könnte doch statt so schuld- und strafzentriert in die Welt zu blicken, eher ressourcenorientiert gucken: Wie kann man Leuten beistehen? Wie kann man Leuten, die schwierige Neigungen haben, beistehen und Leuten beistehen, die so was erlebt haben? Und die nicht in eine Opferschublade stecken, denn diese Menschen sind vielleicht noch sehr viel mehr als einfach nur Opfer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Anselm Neft: Die bessere Geschichte. Rowohlt 2019. 480 Seiten, 22 Euro.