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Internet in China

Sie ist kaum 23 Jahre alt. Psychologiestudentin im vierten Studienjahr aus Peking. Sie hat beide Elternteile in der Kindheit verloren und lebte bis zu ihrer Verhaftung zusammen mit ihrer Großmutter. Liu Di heißt sie, eine junge Chinesin, die in Haft ist, nur weil sie sich zu Worte gemeldet hat - im chinesischen Internet. So schrieb Liu Di in einem Diskussionsforum:

Shi Ming | 05.05.2003
    Vor kurzem habe ich ein Buch zum Thema 'Familienerziehung' gelesen. Das Buch trägt den Titel: 'Ich bin banal, aber fröhlich.' Schon der Buchtitel verrät, dass es ein sehr eigenwilliger Exemplar ist...denn in unserem Fernsehen sieht man oft, dass Experten Kindern unterstellen, ein jedes Kind wolle nur das eine, nämlich über alle anderen Menschen zu sein. Sie, die Experten wie auch die meisten Chinesen, glaubten, dies sei der Traum der Selbstverwirklichung. Aber in Wirklichkeit geht es hier um die Erziehung hin zur Macht, mit deren Hilfe andere Menschen beherrscht, niedergeworfen, kontrolliert und dominiert werden. Darum geht es bei uns in China.

    Im chinesischen Internet melden sich heutzutage viele Chinesen kritisch zu Worte, wie Liu Qing, Vorsitzender der "China Human Right" in New York berichtet:

    Jenseits der traditionellen Medien bietet das Internet eine neue Form des Austausches von Informationen und Gedanken. Im Vergleich zu traditionellen Medien, die ja fest in den Händen der Kommunistischen Partei liegen, bietet die neue Form viel größeren Raum, viel höhere Geschwindigkeit für den Austausch. Aus diesen Gründen versucht die chinesische Regierung seit Jahren, mit jedem erdenklichen Aufwand das Internet unter Kontrolle zu halten. Wir wissen etwa, dass ein Mann namens Huang Qi aus der Provinz Sichuan eine Website aufgemacht hatte, um Menschen zu helfen, ihre verschollenen Familienangehörige wiederzufinden. Aber da Huang Qi auf seiner Website Informationen aus dem Ausland zitiert hatte, wurde er verhaftet. Bis heute gibt es keinen Prozess gegen ihn. Seit zwei Jahren ist Huang Qi in Haft.

    Um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, sorgte die junge Psychologiestudentin Liu Di aus Peking vor. Anders als Huang, brachte Liu Di keine Information aus dem Ausland. Sie lieferte keinen Service, damit Chinesen die oft vom Geheimdienst verschleppten Angehörigen besser finden können. Liu Di äußerte in Diskussionsforen ihre Meinung. Im Internet, zu dem laut amtlichen Angaben heute rund 40 Millionen Chinesen Zugang haben sollen, veröffentlichte sie ihre Artikel unter dem Pseudonym "Maus aus rostfreiem Stahl". So gewappnet schont sie Chinas politisches System der Überwachung nicht mit Kritik:

    Nun zu der Internetpolizei. Noch vor kurzem begnügte sie sich damit, das Internet mit Schlüsselwörtern zu durchsieben. Nebenbei observieren sie einige wenige Schlüsselfiguren im Internet. Aber jetzt schreiben sie sogar vor, dass jeder Internetprovider...gleich alles unter Beobachtung stellen muss: den Inhalt des Artikels, die Zeit der Veröffentlichung, die Website-Adresse,...Surfzeit, Kundenkonto und Kundentelefonnummern... Genau dies ist das eigentliche Problem unserer Staatssicherheitsbehörde. Sie kann nicht alle. Das kann niemand. Aber dennoch ufert die Staatssicherheitsbehörde bis ins Unendliche aus, sowohl was ihren organisatorischen Ausmaß wie auch ihre Machtkompetenzen angeht.

    Wie richtig Liu Di’s Kritik ist, erwies sich am 7. November 2002. An diesem Tag, gegen Mittag, kamen Sicherheitskräfte zuerst auf den Campus ihrer Universität, die Pekinger Pädagogische Universität, und führten Liu Di, die Maus aus rostfreiem Stahl, ab. Am selben Abend wurde ihre Wohnung, die sie mit ihrer Großmutter bewohnt, durchsucht. Gefragt, was los sei, bekam Liu Dis Großmutter die Antwort: Liu Di pflege Kontakte mit illegalen Organisationen, eine Beschuldigung, die ihr bis heute nicht nachgewiesen ist. Und die willkürliche Verfolgung von Wortäußerungen im Internet Chinas nimmt immer größeren Ausmaß an. Dazu Liu Qing, ein führender Menschenrechtler aus dem amerikanischen Exil:

    Neben Liu Di gibt es noch mehrere Personen, wie etwa der Leiter des Diskussionsforum Freiheit und Demokratie, außerdem Li Yibin, Jiang Yanyi aus Nordostchina und aus der zentralchinesischen Provinz Sichuan Ouyang Yi. All diese Personen wurden aus dem gleichen Grund verhaftet. Sie alle hatten sich mit Wortäußerungen im Internet hervorgetan. Aus dem nordwestlichen Autonomen Gebiet Xinjiang wissen wir, dass da ein Mann namens Tao Haidong aus dem selben Grund zu sieben Jahre Haft verurteilt worden ist. In ihrer eigenen Zeitung für Rechtsstaatlichkeit machte die chinesische Regierung keinen Hehl daraus, weshalb Tao Haidong abgeurteilt wurde: Tao, so die Begründung, habe eomem Staatsumsturz versucht. Auf die anderen bereits Inhaftierten, die ihre Meinungen mit Hilfe des Internets kundgetan haben, warten auf ähnliche Freiheitsstrafen.

    Was das Schicksal der jungen Studentin Liu Di aus Peking angeht, so wurde deren Großmutter erst am sechs Wochen später offiziell über die Verhaftung ihrer Enkelin informiert. Bis heute weiß niemand, wo Liu Di ihre Untersuchungshaft abbüßt. Jeder Besuchsantrag durch Familienangehörige ist abgelehnt worden. Ohne jedweden Hinweis auf den Beginn eines Prozesses ist Liu Di bis Anfang März sogar verboten, mit einem Rechtsanwalt über ihren Fall und ihre Verteidigung zu sprechen.