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Interview-Projekt "Storycorps"
Anrührende Geschichten aus dem Leben

"Stellt Euch vor, das sind die letzten 40 Minuten, die Euch gemeinsam bleiben. Was würdet Ihr voneinander wissen wollen?" Ungewöhnliche Fragen sind sozusagen das Markenzeichen der Organisation Storycorps. Seit zwölf Jahren sammelt die NGO Interviews von Menschen in den USA und hält sie für die Ewigkeit fest. Angefangen hat alles 2003 in New York.

Von Sonja Beeker | 14.12.2015
    Ein Mikrofon liegt auf einem Tisch
    Storycorps-Interviews haben den Ruf, beim Hörer starke Emotionen auszulösen und viele sogar zu Tränen zu rühren. (picture alliance / dpa)
    Als Sarah Littmann mit ihrem Sohn das kleine Storycorps-Studio betritt, hat sie keine Ahnung, welche Fragen sich Joshua überlegt hat. 40 Minuten lang interviewt der Zwölfjährige seine Mutter. Joshua leidet am Asperger-Syndrom. Er will wissen, ob sie manchmal verzweifelt ist, ob sie ihn schon mal angelogen hat und warum alle seine Schwester Amy lieber mögen als ihn.
    Das habe vielleicht etwas mit seinem Asperger-Syndrom zu tun, antwortet sie ihm. Es falle ihm nicht so leicht, freundlich zu sein. Die Leute aber, sagt sie, die sich die Mühe machen, ihn kennenzulernen, die lieben ihn genauso wie seine Schwester Amy.
    Als das Interview 2006 in der NPR-Nachrichtensendung Morning Edition ausgestrahlt wird, bewegt es Millionen von Radiohörern. Jeden Freitag wird dort ein kleiner Auszug aus einem insgesamt über 60.000 Interviews gesendet, die allesamt in der Library of Congress in Washington archiviert sind. Storycorps-Interviews haben den Ruf, beim Hörer starke Emotionen auszulösen und viele sogar zu Tränen zu rühren. Das ist durchaus gewollt, sagt Michael Garofalo. Er leitet die Audioabteilung der Non-Profit-Organisation und vermutet, dass die intensive Wirkung nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch den Kontrast zur schnell getakteten Nachrichtensendung entsteht. Eine Art Überraschungseffekt. Statt Informationen gibt es einen Moment zum Nachdenken. Der Hörer, meint Michael Garofalo, ist außerdem so viel Ehrlichkeit gar nicht mehr gewohnt.
    Wenn Menschen sich plötzlich öffnen
    Nur ein Bruchteil der 60.000 archivierten Interviews schafft es ins Radio. Das sind die Geschichten, bei denen die Magie sofort da ist oder das Thema kurios und neu, die überraschen. Aber selbst das, sagt Michael Garofalo, reicht manchmal nicht aus. Um eine richtig gute Geschichte zu erzählen, musst Du Dich an eine wichtige Regel halten: Du musst Dich von allem trennen, was nicht hundertprozentig passt. Alle großen amerikanischen Radioprogramme, wie This American Life, die Leute, die hinter dem Podcast Serial stecken und auch wir, das Storycorps-Team, wir sortieren rigoros aus, sagt er.
    Die Idee zum Storycorps-Projekt hatte der Radiojournalist David Isay. 2003 begann er mit seinem Team in einem kleinen mobilen Radiostudio mitten am wuseligen Grand Central Bahnhof in New York Interviews aufzuzeichnen von Menschen, die bis dahin noch nie vor einem Mikrofon gesessen hatten. Als Isay selbst noch ein Kind war, schnappte er sich bei einem Thanksgiving Fest einen Kassettenrekorder und begann, seine Verwandten zu interviewen. Besonders die Geschichten der älteren Generation hatten es ihm angetan. Aber auch den Verwandten gefiel es, interviewt zu werden. Damals sagt er, habe er gelernt, dass gewöhnliche Leute oft die besten Geschichten erzählen können, Du musst einfach nur zuhören!
    Für Storycorps ist bei jedem Interview ein sogenannter Facilitator dabei, ein Journalist, der sich um die Technik kümmert, aber auch aushilft, wenn Interviews ins Stocken geraten und der dafür sorgt, dass sich die Teilnehmer wohl fühlen. Jill Glaser hat Hunderte solcher Interviews begleitet und immer wieder beobachtet, wie Menschen sich auf einmal öffnen, sich trauen, Fragen zu stellen, für die im Alltag kein Platz zu sein scheint. Manchmal, sagt sie, fließen die Tränen, noch bevor das Mikro offen ist.