Freitag, 29. März 2024

Archiv

Invasive Pflanzen und Tiere
Eingewanderte Arten nicht verteufeln

Invasive Pflanzen- und Tierarten, die der Mensch rund um die Welt herbeischafft und die sich dann in einer neuen Umgebung festsetzen können, sind eine Chance. Das schreibt zumindest der britische Umweltjournalist Fred Pearce in seinem Buch.

Von Dagmar Röhrlich | 18.07.2016
    Grauhörnchen sitzt im Gras, Detroit, MI, USA.
    Eichhörnchen: Ihnen hat sich an einigen Orten eine invasive Art als Konkurrenz hinzugesellt, die Grauhörnchen. (picture alliance / dpa / Benjamin Beytekin)
    Gough liegt im Südatlantik. Eine Vulkaninsel mitten im Nirgendwo, 1938 von Briten in Besitz genommen und bewohnt von der Mannschaft einer südafrikanischen Wetterstation. Gough könnte, wie der Königlich Britische Ornithologen-Verband feststellte, die wichtigste Seevogelkolonie der Welt sein. Zehn Millionen Vögel brüten dort in Erdlöchern:
    "Doch diese unterirdische Seevogel-Siedlung ist bedroht, und zwar von den neuen Inselherren, den Nachfahren der englischen Hausmaus, die irgendwann im 19. Jahrhundert von einem viktorianischen Walfänger gesprungen und an Land geschwommen sein muss."
    Auf der Insel mutierte die Maus zum fleischfressenden Monster. Heute vertilgen etwa zwei Millionen rattengroße Exemplare pro Nacht rund drei Tonnen Vogelfleisch: Sie fallen über flugunfähige Küken her, fressen sie bei lebendigem Leib.
    "Die mutierten Mäuse bestimmen das Bild. Und dies vielleicht sogar so lange, bis sie nichts mehr zu fressen haben."
    Zwar schildert der britische Umweltjournalist Fred Pearce die ökologische Katastrophe eindringlich. Doch will er die Mäuse von Gough nicht als Menetekel verstanden wissen für das, was sich in der globalisierten Welt von heute abspielt: für die stete Invasion neuer Arten in bestehende Ökosysteme, weil der Mensch tagtäglich unzählige Tiere und Pflanzen von einem Kontinent zum anderen schafft. Mal absichtlich, in Containern verpackt zur Verschönerung der Gärten. Mal als blinde Passagiere etwa im Ballastwasser der Schiffe. Was auf Gough passiere, betont Pearce, sei ein Sonderfall:
    "Natürlich gibt es Horrorgeschichten von der Machtübernahme durch fremde Arten. Die meisten spielen sich auf kleinen, abgelegenen Inseln mit nur wenigen heimischen Arten ab, wo Räuber wie Ratten, Katzen und andere Chaos anrichten. Anderswo gehen Zehntausende eingeführter Arten nach ihrer Ankunft entweder rasch ein oder werden zu vorbildlichen Öko-Bürgern, befruchten Pflanzen, verbreiten Samen, halten Raubtiere in Schach und bieten heimischen Arten Nahrung und Zuflucht."
    Invasive Pflanzen sind die Rettung
    Die These des Autors: Ob Drüsiges Springkraut oder Regenbogenforelle fremde, durchsetzungsfähige Arten sind keine krebsartig wuchernden Fremdkörper, die die Umwelt zerstören. Sie sind nicht das Problem in einer durch den Menschen arg zugerichteten Natur - vielmehr sind sie die Rettung, erklärt Fred Pearce:
    "Es gibt kein Zurück in die Zeit, bevor der Mensch zur treibenden Kraft auf der Erde wurde. Wahre Umweltschützer müssen also nach Maßnahmen suchen, die der Natur wirklich helfen. Sie müssen weniger Zeit darauf verschwenden, gefährdete Arten zu schützen, die in der modernen Welt kaum zurechtkommen. Vielmehr müssen sie die fremden, durchsetzungsfähigen Arten unterstützen, die gut Fuß fassen und sich ausbreiten: Das sind die Arten, die in der neuen Welt gedeihen werden."
    Um seine These zu untermauern, berichtet der Autor von Ascension. Als Charles Darwin die erst eine Million Jahre alte Vulkaninsel auf seiner Reise mit der Beagle 1836 besuchte, klagte er über deren "nackte Abscheulichkeit", beschrieb einen "Berg bar aller Bäume". Käme er zurück, er wäre sprachlos: Dieser Berg ist heute eine grüne Oase. Doch abgesehen von ein paar Farnen ist keine der Pflanzen, die dort wachsen, heimisch:
    "Der Nebelwald auf dem Green Mountain ist ein komplett von Menschen geschaffenes Ökosystem, ein Mischmasch fremder Arten, die im 19. Jahrhundert auf Geheiß viktorianischer Botaniker eingeführt wurden."
    Um diesen Wald tobte eine heftige Kontroverse: Denn aus den zusammengewürfelten Arten hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte ein komplexes Ökosystem entwickelt. Das widerspricht der ökologischen Standardtheorie, wonach so etwas - aus Menschensicht - Ewigkeiten braucht. Auf Ascension haben fremde, invasive Arten zusammen mit den dort bereits ansässigen Neues geschaffen. Das Problem dabei:
    "Die Umweltpolitik der britischen Regierung sieht für die Insel vor - Zitat: -, "invasive Spezies zu begrenzen und auszurotten", um "den Schutz und die Erholung lebensnotwendiger Habitate" sicherzustellen."
    Natur nicht als konstante Form verstehen
    Eine Politik sei das, die sich angesichts der tatsächlichen Entwicklung auf Green Mountain eher auf Glaubensbekenntnisse stütze denn auf wissenschaftliche Erkenntnisse, urteilt Fred Pearce. Als klar war, dass die wenigen, auf der jungen Insel heimischen Arten von der Entwicklung profitieren, wurde Ascension nicht zurückversetzt in den Zustand zu Darwins Zeiten. Es verwandelte sich in ein Experimentierfeld, das - ein wenig pathetisch formuliert - vielleicht Erkenntnisse für die "Rettung der Welt" liefern könnte: Natur versus Kultur, Einheimisches gegen Importiertes - das seien Kategorien, die in der globalisierten, immer dichter besiedelten Welt des 21. Jahrhunderts nicht griffen.
    "Die ungestörte Natur hat keine konstante Form, Struktur oder bestimmte Proportionen, sondern ändert sich auf jeder Ebene von Zeit und Raum. Umweltschützer sammeln Gelder, Regierungen erlassen Gesetze und Wissenschaftler widmen ihre ganze Zeit dem Ziel, die Natur in einem Zustand einzufrieren, der weder zweckmäßig, noch wünschenswert ist."
    Und deshalb sei die Liste von rund 100 invasiven aus Europa wieder zu eliminierenden Arten, die von der Europäischen Union vorgelegt worden ist, ein Fehler:
    "Das sind die Arten, die in unsere Städte ziehen und die Natur zurückbringen - seien es Pflanzen oder Tiere."
    Mit den "neuen Wilden" hat Fred Pearce ein leidenschaftliches, mitreißendes Plädoyer gegen Untergangsstimmung geschrieben. Der Autor möchte Denkanstöße geben, einen Weg aufzeigen, wie die Natur nicht gegen, sondern mit invasiven Arten geschützt werden kann.
    An den Rand gedrängt wird dabei, dass da gerade ein einmaliges Experiment in dem vielleicht vier Milliarden Jahre währenden irdischen Leben abläuft: Noch nie sind so viele Arten in einem so atemberaubenden Tempo durcheinander gewirbelt worden. Das Resultat lässt sich nicht vorhersagen.
    Das Verdienst von Fred Pearce ist es, uns zu zeigen, dass wir die Natur nicht als Museum betrachten dürfen. Die neuen Wilden bergen eine Chance, sind nicht der Untergang. Und diese optimistischen Gedankengänge machen dieses Buch so lesenswert.
    Buchinfos:
    Fred Pearce: "Die neuen Wilden. Wie es fremden Tieren und Pflanzen gelingt, die Natur zu retten"
    Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Barbara Steckhan, Oekom Verlag, 330 Seiten, 22,95 Euro.