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Inventur der eigenen Gesellschaft

Bis heute wurde in Rumänien gezählt. Doch die Regierung wollte nicht nur wissen, wie viele Menschen im Land leben, eine Frage galt auch der ethnischen Zugehörigkeit. Mit einer Werbekampagne haben mehrere Roma-Organisationen versucht, ihre Mitglieder zu ermutigen, sich zu ihrer Identität zu bekennen.

Von Annett Müller | 31.10.2011
    Acht Männer sitzen vor einem grauen, schäbigen Wohnblock im Armenviertel Rahova in Bukarest. Ein Sonnenstrahl fällt aufs braune Spielbrett. Marius Sica mischt die Rommé-Steine, der Rest schaut zu. Er ist 43 Jahre, Beruf Taxifahrer. Alles Angaben, die Marius Sica den Volkszählern nennen muss:

    "Klar sage ich auch, was ich bin. Ich bin ein Roma. Dafür schäme ich mich doch nicht. Wir sind hier ja auch in einem Ghetto unter uns."

    Rund eine halbe Million Roma wurden bei der letzten Volkszählung vor knapp zehn Jahren registriert. Die Mehrheit aber gebe sich nicht zu erkennen, meinen Nichtregierungsorganisationen. Sie gehen von drei bis fünf Mal so vielen Roma in Rumänien aus. Auch Taxifahrer Marius Sica glaubt, dass sich viele verleugnen:

    "Es gibt viele Roma, die inzwischen mit Rumänen verheiratet sind. Sie leben in besseren Wohnblöcken als wir hier. Und sie schämen sich für ihre Ethnie. Die wollen nicht mehr als Roma verspottet werden."

    Die Angst der Roma vor Hohn und Verachtung ist nicht verwunderlich, denn in Umfragen meint die Mehrheit der Rumänen, dass Roma meist arm, kriminell und faul seien. Ein Negativimage, das einschüchtert, meint Magda Matache von der Vereinigung "Romani Criss". Wer jedoch schweigt, wird auch nicht wahrgenommen, weiß die Roma-Aktivistin aus Erfahrung:

    "Wir hatten Programme, die mit EU-Fördermitteln ausgestattet wurden und die für Roma-Kinder gedacht waren. Doch die Schulen konnten keine Gelder beantragen, obwohl die Mehrheit der Einwohner im Ort Roma waren. Es hatten sich einfach zu wenig von ihnen offiziell zu ihrer Identität bekannt."

    Roma-Aktivisten wie bei "Romani Criss" hoffen, mit der aktuellen Volkszählung Inventur in der eigenen Gemeinschaft zu machen. Würden sich tatsächlich alle geschätzten zwei Millionen Roma bekennen, wäre es die größte Minderheit im Land. Das würde Selbstvertrauen schaffen. In zahlreichen Orten sind die Nichtregierungsorganisationen deshalb von Tür zu Tür gegangen, um über den Volkszensus aufzuklären, auch weil viele Roma gar nicht wissen, was das ist.

    Im Fernsehen werden täglich Werbespots von erfolgreichen Roma ausgestrahlt, die erklären, wie stolz sie auf ihre Herkunft sind. Eine gute Aktion, meint der rumänische Psychologe und Medienaktivist Mircea Toma. Doch dürfe man nicht glauben, dass sich wegen dieser Kampagne gleich alle zu ihrer Ethnie bekennen würden:

    "Jeder Roma stellt sich die Frage: Was nützt es mir, mich zu erkennen zu geben? Hilft mir das? Es hilft vor allem der Roma-Gemeinschaft. Doch das setzt ein hohes Sozialempfinden voraus. Darum wird man noch Jahre kämpfen müssen, mit vielen Aktionen."

    Ioan Popescu aus Bukarest wird sich bei der Volkszählung nicht als Roma registrieren lassen. Wenngleich das Statistikinstitut wirbt, dass niemand Angst habe müsse, weil die Angaben vertraulich behandelt würden. Doch nach jüngsten Zeitungsberichten sollen Parteien Zugriff auf die Fragebögen haben, auch wenn das verboten ist. Ob die Berichte wahr sind, ist unklar, aber sie schaffen Misstrauen. Auch bei Ioan Popescu, der seinen richtigen Namen nicht sagen will:

    "Rumänien steckt in einer Wirtschaftskrise, da kann schnell eine nationalistische Partei an die Macht kommen. Wenn diese Partei Zugriff auf die Daten aus der Volkszählung hat, weiß sie auch, wo Roma wohnen. Wer weiß, was einem dann passieren kann. Den staatlichen Behörden trau ich alles zu."

    In der zwei Millionen Stadt Bukarest kann Ioan Popescu anonym bleiben. Der 40-Jährige hat studiert und arbeitet als Ingenieur in einem Staatsbetrieb. Seine Kollegen schätzen ihn als zuverlässig und ehrlich. Er wäre ein gutes Beispiel, um die Klischees über Roma zu widerlegen. Doch Popescu gibt sich als Rumäne aus und schweigt, wenn seine Kollegen im Büro wieder einmal über Roma lästern:

    "Ich weiß, dass ich meine Gemeinschaft verrate. Mir tut das auch leid. Aber ich denke zuallererst an mich und meine Familie. Denn ich weiß: Wenn ich mich nicht als Roma zu erkennen gebe, muss ich mich auch nicht verteidigen."