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Inzest
Weniger risikoreich als gedacht

Rund eine Milliarde Menschen leben in Ländern, in denen Ehen zwischen nahen Verwandten üblich sind. Das kann gesellschaftliche Vorteile haben, birgt aber auch Risiken. In einer Studie wurde jetzt der generelle Einfluss des Verwandtschaftsgrads von Vater und Mutter untersucht, mit durchaus überraschenden Ergebnissen.

Von Volkart Wildermuth | 02.07.2015
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    Die Gene von Mutter und Vater haben weniger Einfluss auf die Kinder als gedacht. (imago / McPHOTO)
    Fangen wir mit Charles Darwin an. Der Naturforscher hat nicht nur die Evolutionstheorie ersonnen, sondern sich auch mit Züchtungsversuchen beschäftigt. "Über den guten Einfluss der Kreuzung und die schädlichen Effekte der Inzucht", lautet eine Kapitelüberschrift in Darwins Buch über Pflanzen- und Tierzucht. Er selbst war davon überzeugt, dass sich diese Ergebnisse auch auf den Menschen übertragen lassen. Das erfüllte ihn sein ganzes Leben lang mit Sorge, denn Darwin hatte Emma Wedgwood geheiratet, seine eigene Cousine. Drei ihrer zehn Kinder sind früh verstorben. Aber das war damals nicht ungewöhnlich. Mit den Mitteln der Genomforschung lässt sich heute der Einfluss der Verwandtschaft der Eltern sehr viel genauer abschätzen.
    "Wir wollten wissen, ob es eine Rolle spielt, wenn man von Vater und Mutter die gleiche DNA-Version erbt. Dabei haben wir uns auf die Krankheiten konzentriert, an denen die meisten Menschen sterben, wie etwa Herz-Kreislaufleiden oder die Zuckerkrankheit, die Altersleiden." Jim Wilson von der Universität Edinburgh hat dazu die Daten von sehr vielen Gesundheitsstudien mit über 350.000 Teilnehmern auf eine neue Art analysiert. Als erstes musste er den Verwandtschaftsgrad der Eltern bestimmen. Das geht über die DNA. Die existiert in zwei Kopien in jeder Zelle, eine stammt von der Mutter, die andere vom Vater. Im menschlichen Erbgut gibt es unzählige Stellen, die in verschiedenen Varianten vorliegen können.
    Kein Effekt auf Herz-Kreislaufkrankheiten
    "Man geht die Chromosomen entlang und zählt: gleich, gleich, gleich, und dann kommt ein Stück, das von Papa und Mama in unterschiedlichen Versionen kam. Wir alle haben diese gleichen Stellen auf der DNA, denn letztlich sind wir alle miteinander verwandt, die Frage lautet, wie lange ist das her?" Die Länge der übereinstimmenden Stellen auf der DNA ist ein Maß für die Verwandtschaft. Meist ist sie recht niedrig. Aber das war nur der erste Teil der Studie. Interessant wurde es, als Jim Wilson diesen genetischen Verwandtschaftsgrad mit den Gesundheitsdaten verglich. "Wir waren verblüfft, dass es gar keinen Effekt bei den Stoffwechsel- oder den Herz-Kreislaufkrankheiten gab. Dafür hat der Verwandtschaftsgrad einen deutlichen Einfluss auf die Körpergröße und die geistige Leistungsfähigkeit."
    Das ist spannend für Jim Wilson, denn er interessiert sich vor allem für den Einfluss der Evolution auf das menschliche Erbgut. Aus seinen Daten schließt er, dass ein großer Körper und ein scharfer Verstand Vorteile im Kampf ums Überleben waren. Die Volkskrankheiten dagegen spielen dabei keine große Rolle. Der Evolution kommt es auf die Nachkommen an. Und die stehen meist schon auf eigenen Füßen, wenn der Herzinfarkt oder die Zuckerkrankheit ihren Tribut fordern.
    In einer deutschen Stadtbevölkerung fällt das nicht auf
    Aber zurück zum Einfluss der Verwandtenehe auf Größe und verschiedene Aspekte der geistigen Leistungsfähigkeit. Hier ist der Effekt statistisch klar nachzuweisen. Ob er aber auch relevant ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das zeigt sich, wenn man die Daten aus der Bevölkerung umrechnet auf hypothetische Durchschnittskinder von Cousin und Cousine. "Es geht um eher kleine Effekte. Diese Kinder wären 1,2 Zentimeter kleiner und würden zehn Monate weniger Schulbildung erreichen. In einer deutschen Stadtbevölkerung fallen diese Effekte nicht auf. In Gegenden mit vielen Verwandtenehen sieht das vielleicht anders aus."
    Was die Schulbildung betrifft, sollte man nicht vergessen, dass hier neben den genetischen vor allem soziale Einflussfaktoren eine wichtige Rolle spielen, sagt Jim Wilson. Verwandtenehen sorgen sicher für Probleme bei den eher seltenen echten Erbkrankheiten. Aber was die allgemeine Gesundheit betrifft, scheint das Risiko für die Kinder nicht so groß zu sein, wie oft vermutet wird. Das hat im Übrigen am Ende auch Charles Darwin so gesehen.
    "Die Belege für ein so erzeugtes Übel sind widersprüchlich, aber sie deuten im Ganzen darauf hin, dass es sehr klein ist."