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"Iphigenie auf Tauris"
Die Semperoper tanzt Pina Bausch

Fliegendes Haar, erstarrtes Schreiten, angstvolles Laufen: Pina Bauschs Tanzoper "Iphigenie auf Tauris" ist fast fünfzig Jahre alt. In Dresden tanzt jetzt Aaron Watkins Semperoper Ballett die Inszenierung der verstorbenen Choreografin. Das Ergebnis ist schlicht, schön und sehr zeitgemäß.

Von Wiebke Hüster | 07.12.2019
Sanguen Lee als griechischen Prinzessin Iphigenie.
Schlichte Schönheit: Sanguen Lee als griechischen Prinzessin Iphigenie (Semperoper Ballett / Ian Whalen)
Iphigenie war Pina Bauschs zweite Choreographie und Inszenierung an den Bühnen der Stadt Wuppertal. Intendant Arno Wüstenhöfer, der die damals Dreiunddreißigjährige gerade verpflichtet hatte, hatte auch zugestimmt, das Ballett in Tanztheater umzubenennen. Am 5. Januar 1974 war es dann soweit, und dieser erste, der "Iphigenie" vorausgehende Abend der Kompanie hatte Premiere. Bausch präsentierte einen deutschen und einen amerikanischen Klassiker des Aufbruchs in den modernen Tanz. Agnes de Milles herrliches Ballett "Rodeo" für Lasso schwingende Cowboys und Kurt Jooss' berühmtes Anti-Kriegs-Ballett "Der grüne Tisch" rahmten die wilde Uraufführung des Ensembles mit dem kurzen Titel "Fritz" ein. So veranschaulichte der Abend sehr gut die Traditionen, aus denen Bauschs Tanzkunst entstand.
Die Last des Bausch-Erbes verteilen
Jooss war ihr Lehrer gewesen und wahrhaftiger tänzerischer Ausdruck sein Credo. New York hatte der jungen Stipendiatin Einblicke in den amerikanischen Modern Dance des zwanzigsten Jahrhunderts gegeben. Und "Fritz" zeigte nun, wo Bausch hinwollte. Die Figuren hießen "Kahle Frau", "Dicker Mann" oder "Mannfrau", Dominique Mercy rannte auf der Szene umher und integrierte den ihn damals quälenden Husten in die assoziative Inszenierung, als wäre jedes Geräusch Musik. In den Ohren des Publikums klang das eher nach verstörendem Aufbruch in eine ungewisse Tanzzukunft. Ein ästhetischer Schock also ging der "Iphigenie" voraus. Zumindest musikalisch konnten die erstaunten Wuppertaler da aufatmen: Es erklang Christoph Willibald Glucks Oper "Iphigenie auf Tauris".
In der Dresdner Semperoper tanzt jetzt Aaron Watkins Semperoper Ballett Pina Bauschs choreographische Inszenierung, häufig Tanzoper genannt. Das ist ein weiterer historischer Schritt auf dem Weg zu einer Verteilung der Last des Erbes von Pina Bausch auf unterschiedliche Schultern, ein sehr gesunder Prozess. Zwar ist das Tanztheater Wuppertal bis heute weltweit auf Tournee und zehn Jahre nach dem Tod von Pina Bausch kein bisschen weniger gefragt, selten aber hat ein anderes Ensemble zu Lebzeiten ein Bausch-Stück spielen dürfen – von ihren Tanzwerken "Orpheus" und "Le Sacre du printemps" einmal abgesehen. Sensationell war es, wie gut das Bayerische Staatsballett 2016 dann als erstes Ensemble weltweit ein spätes Bausch-Stück nachspielte.
Puristische Inszenierung
Nun also glänzen die ausgezeichneten Dresdner Tänzer in Glucks "Iphigenie", und natürlich auch die Sänger, der Chor und die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der energischen Leitung von Jonathan Darlington. Vieles an dieser 45 Jahre alten Inszenierung wirkt zeitgenössisch: die leere Bühne, die reduzierten Kostüme, der nackte Look ohne Schuhe, ohne viel Make-Up, mit viel Haut und ohne BH's.
Pina Bauschs choreographischen Stil erkennt man schon an einigen ihrer gefühlvollen, mitunter auch sentimental eingetönten Signaturbewegungen: schwingende Arme, fliegendes Haar, nach vorn gebeugter Oberkörper, erstarrtes Schreiten, angstvolles Laufen. Die ausdruckstänzerische deutsche und die amerikanische Modern Dance Tradition haben eine mitunter ungeduldig machende Patina gebildet. Man möchte diese "Iphigenie" weniger einen Klassiker nennen als einen großen Schritt für die Geschichte des deutschen Tanztheaters der Pina Bausch – hin zu ihrem freien, assoziativen, Bilderbogen-haften, selbsterfundenen Stil. Aber auch das ist ein mehr als legitimer Grund, diese "Iphigenie" zu spielen, zumal, wenn es auf so ausgezeichnete Weise geschieht.