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Irak
Angehörige von IS-Kämpfern: stigmatisiert und ausgegrenzt

Die irakische Regierung schließt etliche Flüchtlingslager um die Stadt Mossul. Für viele Familien gibt es zu den Lagern aber kaum Alternativen. Sie können trotz des Ende des Krieges gegen den IS nicht zurück in ihre Heimatorte, aus finanziellen aber auch politischen Gründen.

Von Charlotte Bruneau | 19.10.2019
Drei Frauen sitzen sich unterhaltend zwischen den Zelten im Jadah Lager, Kreis Mossul
Angehörige von IS-Kämpfern werden mitbestraft. Sie können nicht in ihre Heimatstädte zurückkehren. (Charlotte Bruneau / Deutschlandradio)
Irakische Sicherheitskräfte stehen in einem Lager für Binnenvertriebene im Süden von Mossul, der Millionenmetropole im Nordirak. In den Büros nur ein paar Meter entfernt ist die Stimmung angespannt. Hochrangige Militärs erklären den Mitarbeitern der internationalen Hilfsorganisation, die das Lager verwaltet, es sei nun so weit: Bis Ende der Woche soll das Vertriebenen-Lager endgültig geschlossen werden. So will es die irakische Regierung.
Bis vor kurzem lebten hier noch über 30.000 Menschen. Viele wurden schon weggeschickt. Als Grund dafür nennt die Regierung, dass Binnenvertriebene in ihren Heimatprovinzen zum Wiederaufbau beitragen können – oder in Lager gebracht werden sollen, die näher an ihren Heimatorten liegen.
Ahmed arbeitet seit drei Jahren in dem Lager südlich von Mossul. Er kennt die Bewohner gut und ist skeptisch gegenüber den Umsiedlungs-Plänen.
"Die meisten Familien, die hier leben, werden als IS-Familien bezeichnet. Das sind ungefähr 80 Prozent der Familien."
Viele Angehörige von IS-Kämpfern wollen nicht zurück in ihre Heimatstädte
IS-Familien – so werden diejenigen genannt, deren Angehörige sich dem sogenannten Islamischen Staat anschlossen, die Terrororganisation, die von 2014 bis 2017 große Gebiete im Irak kontrollierte. Wie ein Brandzeichen tragen die Familien nun diesen Titel. Viele von ihnen wollen nicht zurück in ihre Herkunftsstädte. Und das nicht nur, weil ihre Häuser zerstört wurden, meint Ahmed.
"Sie werden von den Scheichen in ihren Heimatorten bedroht. In manchen Gegenden, zum Beispiel in der Provinz Salaheddin, haben die Stammesoberhäupter beschlossen, dass diese Familien nicht zurück dürfen. Wenn sie es trotzdem versuchen, droht ihnen der Tod. Einige Familien, die zurückgegangen sind, wurden nach ein oder zwei Tagen mit Handgranaten angegriffen! Sie mussten flüchten und sind jetzt wieder hier."
In den irakischen Provinzen, die einst vom IS kontrolliert wurden, wollen die lokalen Gemeinschaften nun diejenigen bestrafen, die der Terrororganisation die Tür geöffnet haben sollen. Auch wenn ihnen keine Verbrechen nachgewiesen werden können. Zwar sieht die irakische Gesetzgebung die individuelle Strafbarkeit vor – also dass kein Mensch für die Verbrechen anderer verantwortlich gemacht werden darf – aber das gilt nicht überall im Land.
Seit dem Fall von Saddam Hussein 2003 und in den folgenden Kriegsjahren wuchs die Macht der lokalen Scheiche in den mehrheitlich sunnitischen Provinzen wie Nineveh, in der Mossul liegt, und auch Salaheddin.
Auf dem Land herrscht oft noch Sippenhaft
Das hat Folgen. Dazu Mhammad Tallal, Chef der Kriminalpolizei von Mossul:
"Auf dem Land herrschen andere Gesetze als in der Stadt. Wenn dort einer in einer Familie etwas tut, werden seine Angehörigen mit bestraft. Es sind einzelne Bürger der Dorfgemeinschaft, die in der Nacht die IS-Familien angreifen. Natürlich wollen wir die Schuldigen auch bestrafen, aber wir können ja nicht in jedem Dorf Polizisten stationieren."
Sirwan Rozhbayani, stellvertretender Gouverneur der Provinz Nineveh, sagt, die Verwaltung sei sich dieser Probleme und der Gefahren für die sogenannten IS-Familien bewusst. Er sagt aber auch.
"Aus den Lagern, die geschlossen werden, gehen nur die Familien nach Hause, die das auch wollen. Gezwungen wird keiner."
Vor Ort scheint die Realität jedoch eine ganz andere zu sein. Das erzählt Farah, eine 45-jährige Frau aus der Provinz Salaheddin. Zwei Jahre lang kämpfte ihr Ehemann an der Seite des Islamischen Staates. Sie gehörte nicht zur Terrororganisation, ihr Ehemann sperrte sie zu Hause ein.
"Wir wurden gezwungen zu gehen!"
Als er während der Befreiung Mossuls vom IS ums Leben kam, fand Farah Zuflucht in einem Lager, südöstlich von Mossul. Vor ein paar Wochen wurde es geschlossen.
"Ja, wir wurden gezwungen zu gehen! Sie haben uns gesagt, wir sollen in den Bus steigen. Der sollte uns nach Schirgat bringen, dorthin wo wir herkommen, in die Provinz Salaheddin. Wir hatten Angst. Zwei Stunden bevor der Bus kam, haben wir es geschafft wegzulaufen. Wir haben alle unsere Sachen im Lager gelassen und ein kleines Taxi gemietet, damit uns die Soldaten an den Checkpoints nicht als Flüchtlinge identifizieren und aufhalten. Für viel Geld hat uns das Taxi hier her gebracht."
Farah hat es geschafft, mit ihren Kindern und Enkelkindern die Autonome Region Kurdistan, im Nordirak, zu erreichen. Alle leben nun dort in einem Lager. Die sehen im Irak meistens gleich aus: lange Reihen weißer Zelte, unebene Feldwege. Das ständige Brummen eines Generators.
Aber dennoch: Farah fühlt sich hier sicher. Sie hofft, dass sie hier bleiben kann. Denn sie fürchtet, dass ihre Familie sich nie wieder in die irakische Gesellschaft integrieren kann. Es fehlen die notwendigen Ausweispapiere.
Die sind entweder abgelaufen, wurden beschlagnahmt oder nie ausgestellt. Das ist etwa bei Farahs Enkelkindern der Fall. Die wurden 2015 im sogenannten Kalifat des IS geboren, ihr Vater war Dschihadist. Bis heute haben die Kleinkinder keine Dokumente, sie sind staatenlos, erklärt Ahmed, der Mitarbeiter der Hilfsorganisation:
"Das grundlegendste Recht, nämlich das Recht auf eine Identität, wird ihnen verwehrt. Es ist nicht legal, aber eine Praxis, die in den lokalen Verwaltungen verbreitet ist. Die Behörden tun alles, um die Akten der IS-Familien nicht zu bearbeiten."
Farahs Tochter Aisha kämpft schon seit Monaten dafür, dass ihre Kinder Papiere bekommen – ohne Ausweis dürfen sie nicht zur Schule. Eine Möglichkeit gibt es, um die Kinder von Dschihadisten zu irakischen Staatsbürgern zu machen: Die Mutter muss sich glaubhaft von Angehörigen distanzieren, die Teil des IS waren, und die irakischen Behörden überzeugen.
Aisha versuchte, diesen Weg zu gehen. Aber dafür braucht man im Irak viel Geld, und einen Anwalt. Ihn zu finden ist jedoch schwierig – die meisten wollen nichts mit ehemaligen IS-Angehörigen zu tun haben.
"Der Anwalt hat mir geraten, den Kindern keine Papiere zu geben. Ich war überrascht: wenn sie aufwachsen, brauchen sie doch Papiere! Ich denke schließlich an die Zukunft meiner Kinder. Er hat mir geantwortet, dass es für die Kinder des IS keine Zukunft gibt."