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Irak
"Der Westen setzt zu sehr auf die militärische Karte"

Der Nahostexperte Jochen Hippler warnt vor zu hohen Erwartungen an die neu gebildete Regierung im Irak. Allerdings sei es entscheidend, dass Ministerpräsident Al-Abadi und sein Kabinett "nun ihren Job machen" und das politische Vakuum im Land beendeten. Erst dieses habe die Islamisten-Milizen stark werden lassen.

Jochen Hippler im Gespräch mit Martin Zagatta | 09.09.2014
    Der Friedensforscher Jochen Hippler vom Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg stellt am Dienstag (26.05.2009) in der Bundespressekonferenz in Berlin das Friedensgutachten 2009 vor.
    Sieht im möglichen "politischen Selbstmord" der Islamisten eine Chance für Iraks neue Regierung: Politikwissenschaftler Jochen Hippler (dpa / Alina Novopashina)
    Martin Zagatta: Im Irak sind mittlerweile mehr als eineinhalb Millionen Menschen auf der Flucht, nach den jüngsten Angaben des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, auf der Flucht vor den Terrormilizen des Islamischen Staates. Als Voraussetzung, die Dschihadisten endlich bekämpfen zu können, gilt ja, dass eine neue Regierung im Irak das in Angriff nimmt, und nach monatelangem Gezerre gibt es jetzt zumindest diese Regierung. Verbunden sind wir jetzt mit Jochen Hippler, Politikwissenschaftler und Nahost-Experte an der Universität Duisburg-Essen. Guten Tag, Herr Hippler.
    Jochen Hippler: Guten Tag, Herr Zagatta.
    Zagatta: Herr Hippler, nach all dem, was Sie da jetzt auch in dem Bericht von Clemens Verenkotte mitgehört haben, ist das eine gute Nachricht, dass es diese neue Regierung jetzt gibt?
    Hippler: Nun, es ist eine sehr gute Nachricht, weil ohne so eine Regierungsbildung der Irak tatsächlich gar keine Zukunft mehr hätte. Umgekehrt ist es aber nicht so, dass die Regierungsbildung allein schon die Probleme lösen würde, sondern dass nur ein neuer Rahmen für die Problemlösung entstanden ist, und da wird jetzt sehr vieles darauf ankommen, ob der neue Ministerpräsident tatsächlich seine Versprechen einlösen wird. Versprechen gab es früher von Herrn Maliki auch schon genug, nur hat er sie tatsächlich häufig nicht gehalten.
    Zagatta: Sehen Sie denn da die Voraussetzungen jetzt gegeben? Wenn ich das jetzt recht verstanden habe in dem Bericht: Die Kurden wollen noch drei Monate abwarten, in welcher Form sie da mitmachen, sunnitische Abgeordnete haben sich ganz enthalten, weil sie sagen, das geht alles weiter wie bisher, es gibt keinen neuen Kurs. Klingt das nicht alles eher sehr pessimistisch?
    Hippler: Ja, es klingt sehr pessimistisch, und die Lage ist ja auch relativ verzweifelt. Das heißt, es ist tatsächlich ein ganz entscheidender Punkt, ob man das Vertrauen aller Bevölkerungskreise in diese neue Regierung herstellen oder in den Staat wiederherstellen kann. Es ist ja nicht nur so, dass die Sunniten enttäuscht waren von den letzten Jahren nach der letzten Wahl, wo sie wirklich versucht hatten, ins System zurückzukommen und sich zu beteiligen, und dann schikaniert, rausgedrängt und auch unterdrückt worden sind. Es ist auch so, dass selbst innerhalb der schiitischen Bevölkerungsmehrheit sehr große Skepsis entstanden ist unter Maliki, und dass zum Schluss wir jetzt ja auch gesehen haben, dass die Kurden sich noch sehr zurückgehalten haben, sehr viel versucht haben, noch auszuverhandeln. Das hing auch damit zusammen, dass sie bei der letzten Regierung tatsächlich ähnliche Versprechungen erhalten haben, von denen aber dann sehr wenig passiert ist.
    "Auf Al-Abadi kommt es an"
    Zagatta: Glauben Sie, dass sich das unter Abadi jetzt ändern kann? Er kommt ja aus demselben Umfeld, er gehört derselben Partei an wie Maliki, die beiden haben lange Jahre ganz eng zusammengearbeitet. Warum soll man sich von ihm jetzt mehr versprechen?
    Hippler: Weil die Lage verzweifelter geworden ist. Herr Maliki hatte tatsächlich die Probleme nicht primär verursacht, weil er einer bestimmten Partei angehört - ohne die Partei wird relativ wenig laufen -, sondern weil er versucht hat, seine persönliche Macht auf Kosten des politischen Systems zu stärken. Er hat zum Beispiel ja nicht nur das Amt des Ministerpräsidenten bekleidet, sondern sozusagen nebenbei, im Nebenberuf war er auch noch Innenminister, Verteidigungsminister und sonst alles Mögliche. Er hat zum Teil außerhalb oder am Rande des Staatsapparates noch eigene bewaffnete Organe unter Kontrolle gehabt. Da ging es eher um seine persönliche Machtposition, nicht so sehr um eine parteipolitische. Und jetzt muss man mal sehen, ob sein Nachfolger tatsächlich das verstanden hat, was er in seiner Rede jetzt ausgedrückt hat. Die Rede ist erst mal ermutigend, weil er in die richtige Richtung weist, aber positive Reden von Politikern sollte man vielleicht noch nicht mit der Goldwaage abwiegen.
    Zagatta: Ist es auf der anderen Seite nicht ein ganz, ganz schlechtes Zeichen, dass auch der neue Ministerpräsident es jetzt nicht geschafft hat, einen Innenminister beziehungsweise einen Verteidigungsminister zu finden? Die Posten sind ja nach wie vor vakant.
    Hippler: Ja richtig, und jetzt wird es wirklich darauf ankommen, wie er damit umgehen wird. Gerade in der gegenwärtigen Krise jetzt mit Islamischer Staat und dem Krieg, den es im Norden und im Westen, aber auch teilweise in anderen Landesteilen gibt, ist natürlich gerade die Frage, wer hat Kontrolle über die militärischen Einheiten, wer hat Kontrolle über Polizei und Geheimdienste, ganz entscheidend, und da muss man jetzt schauen, ob der Ministerpräsident tatsächlich, wie er versprochen hat, in ein paar Tagen Leute ernennt, oder ob er dem schlechten Vorbild von Herrn Maliki folgt und diese Posten selber noch mit verwalten will - das ist ja noch nicht ganz vom Tisch -, dass er die Ausrede wählen wird, dass es keine unabhängige Person geben könnte. Da wird es drauf ankommen.
    Zagatta: Der Westen setzt ja darauf, dass diese IS-Terroristen zu bekämpfen sind eigentlich nur mit einem gemeinsamen Vorgehen, auch der irakischen Regierung. Die Diskussion ist jetzt abzusehen. Kann man dem Westen jetzt raten, an eine solche neue Regierung im Irak wieder Waffen zu liefern, auf die zu setzen, nach all dem Versagen auch ihres Militärs in den zurückliegenden Monaten?
    Hippler: Die westliche Politik, gerade die amerikanische vor allen Dingen, scheint mir im Moment, was wir so aus Washington hören, eher ein bisschen zu sehr auf die militärische Karte zu setzen. Natürlich muss man jetzt dieser Islamischer-Staat-Miliz auch militärisch entgegentreten, und da gibt es nicht so schrecklich viele Kräfte, die das könnten: die Kurden und theoretisch die irakische Armee. Aber wir müssen einfach daran denken, dass die Stärke dieser Islamischer-Staat-Miliz nicht so sehr von ihrer eigenen Stärke, sondern von der Schwäche des Staates abhängt. Das heißt, diese Kräfte sind nur so hoch gekommen, nur so stark geworden, weil sie in ein Vakuum hineinstoßen konnten, ohne besonders viel Kraft, das der irakische Staat durch seine verfehlte Politik, durch seine Schwäche hinterlassen hat. Deswegen muss man zwar mittelfristig jetzt durchaus militärisch Unterstützung leisten, aber man wird das Problem langfristig nicht lösen, wenn es nicht gelingt, tatsächlich das politische Vakuum zu beenden, und das heißt, dass die irakische Regierung ihren Job machen muss, dass sie ihre eigene Bevölkerung insgesamt vertritt und nicht gegeneinander ausspielt und spaltet, und da hat man von außen natürlich nur begrenzte Möglichkeiten, tatsächlich da Einfluss zu üben.
    'Der 'Islamische Staat' könnte die selbstmörderische Politik von El-Kaida im Irak wiederholen"
    Zagatta: Haben Sie die Hoffnung, dass das gelingen könnte, dass die sunnitischen Stämme, die jetzt schon sagen, mit dieser Regierung auf keinen Fall, das ist kein Neuanfang, dass die für einen solchen Kurs, für einen solchen Kurswechsel zu gewinnen sind?
    Hippler: Wenn es jetzt nur um die neue Regierung ginge, würde ich mich erst mal zurückhalten wollen, weil man jetzt tatsächlich erst mal sehen muss, was passiert jetzt, was machen sie von ein paar Eröffnungsreden abgesehen. Aber das Interessante und das Wichtigste ist tatsächlich, dass es erste Hinweise dafür gibt, dass dieser Islamische Staat anfängt, den gleichen Fehler zu machen und die gleiche sozusagen selbstmörderische Politik, die El-Kaida im Irak 2006/2007 gemacht hat. Was ich damit meine ist: Man fängt an, sehr massiv jetzt nicht nur Minderheiten zu massakrieren und andere Verbrechen zu begehen, sondern die eigene soziale Basis gegen sich aufzubringen. Wenn man im syrisch-irakischen Grenzgebiet 700 arabische Sunniten massakriert eines Stammes, dann bringt man Stämme gegen sich selber auf, und wenn man sich schlimmer verhält, als die Regierung in Bagdad sich verhalten hat, wenn man noch brutaler ist, als man sich das wirklich vorstellen kann, dann besteht tatsächlich die Option, dass dieser Islamische Staat die eigene soziale potenzielle Basis, nämlich sunnitische Araber, sunnitisch-arabische Stämme gegen sich aufbringt. Wenn sie das tun werden – und im Moment sieht es ein bisschen so aus -, dann ist das ein politischer Selbstmord, den auch damals El-Kaida begangen hatte im Irak, und dann hat die Regierung auch eine größere Chance. Wenn diese aufständischen Islamischer-Staat-Milizen intelligenter sind, klüger sind und sanfter vorgehen würden, zumindest mit ihrer eigenen Basis, dann wird es für die Regierung noch mal schwieriger werden.
    Zagatta: Der Irak hat eine neue Regierung. Ob das ein Hoffnungszeichen ist, darüber haben wir gesprochen mit Jochen Hippler von der Universität Duisburg-Essen. Herr Hippler, herzlichen Dank!
    Hippler: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.