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Irak und Syrien
Wie die Terrormiliz "Islamischer Staat" so stark werden konnte

Der Islamische Staat (IS) hält seit Monaten die Welt in Atem. Dass die Terrorgruppe diesen Einfluss erlangen konnte, hat verschiedene Ursachen, sagen Wissenschaftler. Und inzwischen agiere IS auf verschiedenen Ebenen: straff organisiert, militärisch handlungsfähig und auf territoriale Kontrolle bedacht.

Von Barbara Weber | 14.08.2014
    Bewaffnete Isis-Dschihadisten
    Bewaffnete IS-Dschihadisten im Irak (Hanein.info / AFP)
    "Alle diese militanten Gruppen haben eine Medienabteilung."
    "Die arbeiten recht professionell, will ich mal sagen. Das Material sieht sehr anspruchsvoll aus."
    Propagandafilme und Dokumentationen von Gräueltaten stellen die Dschihadisten ins Internet. Sie kommunizieren über soziale Netzwerke. Dabei gilt eine Gruppe als besonders aggressiv, die mit nahezu unvorstellbarer Grausamkeit vorgeht: ISIS, seit einigen Wochen auch Islamischer Staat, kurz IS.
    Doch die selbst ernannten Gotteskrieger versuchen sich - zumindest zeitweise - den Anschein von Seriosität zu geben, sagt Dr. Andreas Armborst von der Universität Freiburg:
    "Die Videobotschaften versuchen häufig, Nachrichtenformate zu imitieren vom Aussehen und von der Botschaft her, wodurch natürlich die Glaubwürdigkeit auch erhöht wird. Und das ist ein wichtiges Anliegen von ISIS, dass durch diese Medien sowohl äußerlich als auch vom Inhalt her Glaubwürdigkeit bei ihrer Gefolgschaft erzeugt wird."
    In seiner kürzlich veröffentlichten Doktorarbeit beschäftigt sich Andreas Armborst mit dem Dschihadismus und der Ideologie von Al-Kaida. ISIS ist eine Abspaltung von Al-Kaida. Zum Zerwürfnis mit den ursprünglich afghanisch pakistanischen Islamisten 2013 führten Führungsstreitereien und die beispiellose Grausamkeit von ISIS. Was den Irak betrifft, sieht der Wissenschaftler den Grund für das Anwachsen fundamentalistischer Gruppen in der Intervention der USA:
    "Als der Irakkrieg 2003 beginnt mit dem Einmarsch der Amerikaner, endet die 40-jährige Herrschaft der Baath – Partei und die fast 25-jährige Herrschaft von Saddam Hussein."
    Die Baath Partei hat einen sunnitischen Hintergrund während rund zwei Drittel der Bevölkerung schiitischen Glaubens sind. Zwar wurde der Diktator durch die Intervention gestürzt, doch er hinterließ ein Machtvakuum, indem das Chaos ausbrach.
    "Es gibt einen Bericht der US-amerikanischen RAND Corporation, das ist ein Think Tank, der im Bereich der Sicherheitsforschung sehr viele Publikationen hat, und dieser Bericht spricht so um die Zeit 2004 von mindestens 28 bewaffneten aufständischen Gruppen."
    Eigentlich war Al-Kaida schon besiegt
    Al-Kaida war in dieser Gemengelage 2010 eigentlich schon besiegt, meint der Wissenschaftler. Doch durch den Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges entstanden in der Grenzregion zwischen Irak und Syrien neue Rückzugsgebiete für die Dschihadisten.
    Die Ethnologin Dr. Katharina Lange vom Zentrum moderner Orient in Berlin, hat zwischen 2004 und 2011 im grenznahen syrischen Euphrat-Tal geforscht. Sie pflegt heute noch Kontakt zu einigen der Dorfbewohner, die ihr gegenüber die Eindringlinge so beschreiben:
    "Sie haben mir immer wieder gesagt, dass die Leute ein anderes Arabisch sprechen, dass auch die Kleiderordnung nicht den lokalen Kleidungssitten entspricht."
    Unter dem Zwang und nach den Vorstellungen der selbst ernannten Gotteskrieger mussten die lokalen Kleidungssitten geändert werden:
    "Zum Beispiel dürfen Männer keine Jeanshosen tragen. Frauen müssen sich ganzkörperverschleiern, müssen also auch das Gesicht verschleiern, was in dieser Gegend überhaupt nicht üblich ist. Kinder, die zur Schule gehen wollen, müssen sich auch diesen Kleidungsvorschriften natürlich beugen, das heißt, die kleinen Mädchen müssen auch schon ganzkörperverschleiert in die Schule gehen."
    Die Menschen haben Angst - so die Ethnologin:
    "Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, stellen die Eroberung durch die ISIS als eine Schreckensherrschaft und eine Fremdherrschaft dar. Also sie haben immer wieder betont, dass zwar auch Syrer mit der ISIS arbeiten in dieser Region, dass aber der Großteil nicht aus Syrien kommt, und dass auch die Syrer, die mit der ISIS zusammenarbeiten, nicht aus den Dörfern der Region kommen, und sie sind nicht lokal bekannt."
    Politische Lage fördert Zulauf zur Terrororganisation
    Neben den durch den syrischen Bürgerkrieg entstandenen Rückzugsorten förderte auch die politische Lage in Bagdad den Zulauf zu der Terrororganisation: Die autoritäre Regierung des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki brachte Al-Kaida und später ISIS viele Anhänger.
    Die Rechtfertigung für ihren Kampf entwickeln die transnationalen dschihadistischen Gruppen nach dem gleichen Muster - so Andreas Armborst:
    "Das ist zum ersten der Krieg gegen den Islam, also ein wahrgenommener Krieg gegen den Islam, der in Wirklichkeit ein Krieg gegen den radikalen Islam ist, aber Al-Kaida deutet das so, als sei das ein Krieg gegen die Religion. Die zweite Bedrohung, die Al-Kaida oder der globale Dschihadismus sieht, ist der Verrat am Islam, also der Vorwurf, dass arabische Herrscher den Islam, die Religion, verraten haben. Und die dritte Bedrohung, die Al-Kaida antizipiert, das ist die Einführung von Demokratie oder überhaupt die Ausbreitung von Liberalismus und demokratischen Prinzipien."
    Die Ziele, die der Dschihadismus verfolgt, lassen sich in einem Satz zusammenfassen:
    "Lokal handeln, global denken."
    Territoriale Kontrolle
    Seit seiner Entstehung im Irak agiert der IS, vormals ISIS, auf drei Ebenen.
    Erstens: die territoriale Kontrolle:
    "Die lässt sich beobachten zum Beispiel an Zwangsumsiedlungen, die es im Nordirak gegeben hat in den letzten zwei Jahren. Und man kann territoriale Kontrolle daran erkennen, dass Institutionen von Al-Kaida oder ISIS besetzt wurden und geführt wurden."
    Zweitens: die militärische Handlungsfähigkeit:
    "Der Konflikt hat immer mehr Merkmale von einem regulären Konflikt zwischen zwei Armeen. Das sieht man daran, dass der ISIS Militärparaden in Mosul abhält, dass er schweres Material hat, was er bewegen kann und auch einsetzt."
    Drittens: Die straffe Organisation:
    "Das sieht man daran, dass in den letzten Jahren langfristig strategisch geplant wurde. Es gibt dort militärische Kampagnen, die werden angekündigt. Es gibt Ziele, die für diese Kampagnen formuliert werden, und die haben eine Laufzeit von mehreren Monaten, bis zu zwölf Monaten, zum Beispiel von Juli 2012 bis 2013 gab es die "Breaking the walls" – Kampagne, und das strategische Ziel, das dort formuliert wurde, war, politische Gefangene aus den Gefängnissen zu befreien, und das ist mehrmals gelungen und gegen Ende der Kampagne auch mit dem Überfall auf Abu Ghraib."
    Zu den Strategien des ISIS gehört auch die Umbenennung in Islamischer Staat und Ausrufung des Kalifats, ein wohlüberlegter Schritt, denn er bedeutet, dass die Staatsgrenzen, so wie sie im Mittleren Osten in Folge des Ersten Weltkrieges bestehen, nicht anerkannt werden.
    Marco Schöller, Professor für islamische Geschichte vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Universität Münster, spricht denn auch von einem symbolischen Akt, der damit verbunden ist.
    "Das kann man insofern sagen, als die Idee des Kalifats ja schon auf die Frühzeit des Islams zurückgeht, im Prinzip schon auf die Zeit direkt nach dem Tod des Propheten Mohammed, als die islamische Gemeinde vor dem Problem stand, wer ist denn die neue Führungsfigur? Und daraus hat sich dann relativ schnell die Idee eines Kalifats ergeben, also als der Stellvertreter Gottes auf Erden, das ist ja eigentlich auch eine biblische Idee. Die Idee ist eigentlich frühislamisch."
    Der selbst ernannte Islamische Staat knüpft mit der Ausrufung des Kalifats an die Tradition einer legitimen islamischen Herrschaftsform an:
    "Es gibt da schon eine Tradition, das hat ISIS oder al Baghdadi jetzt nicht erfunden. Und zum zweiten, es ist eben auch sehr clever, das Kalifat zu benutzen im heutigen Kontext. Es hat einen zumindest theoretisch hohen Stellenwert in der islamischen Tradition. Es ist nicht gebunden an einen bestimmten Ort. Es ist nicht gebunden an eine gewisse Zeit. es ist sozusagen überislamisch, hat einen sehr hohen Anspruch. Das passt sehr gut zu unserer globalen Moderne, wo ja auch die Idee der islamischen Umma, der Gemeinschaft aller Muslime in der Welt auch durch die Möglichkeiten der digitalen Vernetzung wieder sehr an Bedeutung gewonnen hat."
    Zudem ist der Herrschertitel des Kalifen aus Sicht der Islamisten noch nicht diskreditiert wie zum Beispiel Sultan, Malik oder Emir:
    "So heißen ja die Herrscher in den Golfstaaten, in Ägypten, also alle die, mit denen man eigentlich nichts zu tun haben will und mit denen man sich auch nicht identifiziert. Der Kalifentitel ist noch ein unbesetzter Titel, der auch dadurch dann attraktiv wird."
    Entsprechend reserviert reagieren die anderen Länder des Nahen Ostens:
    "Das ist immer auch eine politische Diskussion, wie das Amt des Kalifats auch ein politisches Amt ist, und kein einziger heute existierender arabisch-islamischer Staat ein Interesse daran hat, das Kalifat, so wie es ISIS dort proklamiert hat, zu unterstützen oder überhaupt nur zu akzeptieren."
    Die Geister, die sie riefen, werden sie nun nicht mehr los: Erfreute sich ISIS doch massiver finanzieller Unterstützung fundamentalistischer Staaten vom Golf. Die interessierten sich bislang auch wenig für die Menschen in den betroffenen Regionen. Für die wiederum bedeutet der Einfall der selbst ernannten Gotteskrieger unendliches, unvorstellbares Leid, erfuhr die Ethnologin Dr. Katharina Lange. Entsprechend düster sehen die Betroffenen ihre Perspektive:
    "Sie sind sehr hoffnungslos in den Gesprächen, die ich führe, schlägt mir doch eine große Hoffnungslosigkeit entgegen. Ich hab' dann doch noch mal konkret gefragt, wie stellt ihr euch die Zukunft vor? Da ist mir eigentlich ganz klar gesagt worden: Wir können nicht unsere Zukunft planen. Wir sind ja froh, wenn wir den heutigen Tag irgendwie bewältigen."