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Irreversibles und Frühinvaliden

"Waren alle DDR-Sportler gedopt?", lautete die bange Frage im Ost-Berliner "Sportecho", als 1990 die ersten Doping-Dokumente aus dem ostdeutschen Sport auftauchen. "Start ohne Lynchjustiz!" fordert sogleich ein westdeutscher Trainer. Vor 20 Jahren fand Vertuschung, zähe Aufklärung und anhaltende Negierung der Folgen einer staatlich verordneten Leistungsmanipulation statt.

Von Grit Hartmann | 05.09.2010
    "Doping - der Beweis. Wie die DDR Sieger machte" titelt der "Stern" am 28. November 1990. Zum ersten Mal werden Protokolle aus dem staatlich gesteuerten Masterplan des ostdeutschen Sports publiziert. Prominente Namen sind darin genannt. Redakteur Martin Hägele:

    "Heike Drechsler, das absolute Aushängeschild der DDR-Leichtathletik, Kristin Otto, die Leichtathletik-Weltrekordler und Olympiasieger Timmermann und Schult, aber auch die inzwischen für bundesdeutsche Klubs startenden Olympiasieger Christian Schenk und Torsten Voss."

    Die meisten Stars lügen, beteuern, von den "Blauen", also dem Anabolikum Oral-Turinabol, oder Testosteron-Spritzen nichts zu wissen. Kristin Otto nimmt Stellung:

    "Ja, das fällt mir sicherlich insofern schwer, als dass ich nur aussagen kann, dass ich nicht gedopt zu den Schwimm-Europameisterschaften gefahren bin."

    Manfred Höppner, seit 1965 im Sportmedizinischen Dienst der DDR, seit 1976 dessen Vizechef, Planer und Kontrolleur des Dopingprogramms für mehr als 10.000 Athleten, hat die Geheimdokumente an den "Stern" verkauft. Kriminell sei die Dopingpraxis nicht gewesen, meint der Doktor, auch in der DDR habe "ärztliche Therapiefreiheit" gegolten:

    "Die Moral wird natürlich sehr unterschiedlich definiert. Ich möchte noch mal sagen, es war eine schwierige Situation, in der ich lange leben musste, und ich denke doch, dieser Weg, den wir jetzt gehen, ist der bessere Weg."

    Den pflastert das hochdekorierte SED-Mitglied mit Bagatellisierung. Redakteur Hägele:

    "Man muss, das muss man ganz klar sagen, diesen Leuten eines zugute halten: Sie haben die Gesundheit ihrer Sportler wesentlich weniger gefährdet als alle anderen in der Welt, die wild und in großen Mengen dopten."

    Mit dem real existierenden sozialistischen Doping hat das wenig zu tun, doch nach der Wiedervereinigung bleibt zunächst vor der Wiedervereinigung: Nichts wollen die Ost-Funktionäre so sehr verhindern wie das Bekanntwerden von Schadensfällen. 1994 wird Höppner unfreiwillig zum Kronzeugen für die wahren Verhältnisse. Die Gauck-Behörde stößt auf seine Akte, die des IM "Technik", 130 Treffberichte auf 744 Seiten. Sie dokumentieren irreversible Schäden und Frühinvaliden schon zu DDR-Zeiten.

    Schon am 6. Juli 1991 berät sich Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, mit Helmut Kohl. Daume schlägt eine "Generalamnestie" vor; der Einheitskanzler nickt ab: Er sehe "keinen Anlass zu einer öffentlichen Diskussion". Das NOK ahnt weitere Enthüllungen über Personal, das nun das neue Sport-Deutschland repräsentiert, Zitat aus einem Sitzungsprotokoll: "Das bereitet große Sorgen - nicht zuletzt im politischen Raum." Im Herbst 1991 kommt Brigitte Berendonk mit ihrem Buch "Doping-Dokumente" dem Vertuscher-Kartell in die Quere:

    "Was ich so widerlich fand, das waren Berichte von IMs über Maßnahmen, die besprochen wurden, die angeordnet wurden im Zusammenhang zum Beispiel mit Mädchen, die sich geweigert hatten, was zu nehmen und hab damals zu meinem Mann gesagt: Mach Du das - das ist unglaublich."

    Berendonk und ihr Mann, der Zellbiologe Werner Franke, werden zu den Chronisten der Scheinheiligkeit der vereinten Sportbrüder - und zu Ratgebern für die Geschädigten des DDR-Sports. Mit Anzeigen gegen die Täter erzwingt Franke Geschichtsaufklärung durch die Justiz. Ab dem 2. Mai 2000 sitzt Höppner mit Manfred Ewald, Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR, auf der Anklagebank. Nebenklägerin Rica Reinisch:

    "Dieser heutige Prozess gewinnt für mich an Bedeutung, weil es den Menschen betrifft, Manfred Ewald, der dafür verantwortlich zeichnet, für dieses Gesamt, diese flächendeckende Dopingmittelvergabe auch an Minderjährige, und der skrupellos darüber entschieden hat."

    Ewald leugnet. Höppner verliest eine Entschuldigung, erklärt aber, sein Motto sei gewesen: "Die gesundheitliche Sicherheit geht vor Goldmedaillen." Die Schwimmerin Catherine Menschner:

    "Ich weiß nicht genau, ob ich ihn eigentlich über den Tisch ziehen will oder ob ich mich erstmal bedanken will, dass er sich entschuldigt hat, wenigstens einer. Aber ansonsten find ich das ziemlich unverschämt, diese Äußerungen, die er gemacht hat."

    Ewald und Höppner kommen mit Bewährung wegen "Beihilfe zur Körperverletzung" davon. Ihre Praktiken überleben, mit den erwartbaren Folgen: Medaillen für die Bundesrepublik, Dopingfälle wie Katrin Krabbe, Astrid Strauß oder Susan Tiedke, der Trainer Thomas Springstein, der durch die Systeme dopt.

    Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung verabschiedet der Bundestag das Doping-Opferhilfe-Gesetz. Knapp 200 Geschädigte erhalten ein "Schmerzensgeld". 16 Jahre nach der Wiedervereinigung folgen Einmalzahlungen vom Deutschen Olympische Sportbund und vom Dopingmittelhersteller Jenapharm. 19 Jahre nach der Wiedervereinigung protestieren Geschädigte bei der Leichtathletik-WM in Berlin gegen das Weiterwirken von Dopingtrainern, deren Namen und Taten allesamt seit einem Jahrzehnt bekannt sind.

    Der DOSB richtet eine Kommission ein, die den Trainern Persilscheine ausstellt. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung, im Januar 2010, verstirbt im Alter von 48 Jahren Birgit Uibel, schon als Mädchen gedopt, Nebenklägerin im Ewald-Höppner-Prozess, Mutter einer behinderten Tochter. Ihr Arzt betreut in Cottbus weiter Athleten. Im Sommer 2010 bemühen sich die Dopingopfer, denen Dauerschäden geblieben sind, noch immer vergeblich um eine Rente.