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Irrungen und Wirrungen rund um einen Mord

Von Szilárd Rubin erschien 2009 in deutscher Übersetzung "Kurze Geschichte von der ewigen Liebe". Bei Kritik und Lesern wurde dieser Roman enthusiastisch aufgenommen. Nun gibt es seinen Kriminalroman "Die Wolfsgrube" als deutsche Übersetzung.

Von Jörg Plath | 16.09.2013
    Für einen Kriminalroman beginnt Szilárd Rubins "Die Wolfsgrube" etwas irritierend: mit einem Prolog in der Zentrale eines ungenannten Geheimdienstes.

    "Oberst Nox mochte die Ungarn nicht. Er war der Ansicht, die in Ungarn für ihn operierenden Agenten handelten häufig überstürzt."

    Und sie könnten, glaubt Oberst Nox, nicht mit Technik umgehen. Das sei beim versierten Agenten 06 jedoch anders, versichert Nox ein Mitarbeiter. Und so wird 06 mit der "Operation Erzengel" beauftragt. Nach diesem Spionageprolog ist von dem kleinen Bruder des berühmten Agenten seiner Majestät keine Rede mehr. Der Roman wechselt nach Ungarn und erzählt von fünf Männern, die allein oder zu zweit in die südungarische Provinz reisen. Im Haus eines sechsten wollen sich die Schulfreude 15 Jahre nach dem Abitur erstmals wiedertreffen. Die Wiedersehensfreude ist groß, die Fremdheit allerdings auch, weshalb die kleine Gesellschaft, zu der neben einer attraktiven Ehefrau auch zwei junge hübsche und eifrig umschwärmte Frauen gehören, auf das einst an der Schule beliebte Spiel "Mörder und Detektiv" zurückgreift.

    Aus dem Spiel wird bald Ernst: Eine der jungen Frauen liegt erdrosselt am Boden. Das Dorf mit dem lieblichen Namen Nachtigall, Csalnogány, erweist sich als Wolfsgrube. Eine Tote, ein eng begrenzter, theatralisch wirkender Raum, eine Handvoll Zeugen, die zugleich als Täter infrage kommen – Agatha Christie hat diese Zutaten immer wieder neu kombiniert.

    Szilárd Rubin legt noch nach. Er bietet Irrungen und Wirrungen um einen Doppelgänger, einen Selbstmord mit Zyankali, eine Wiederauferstehung, giftige Pilze sowie heftiges Begehren, alles offen gelegt in Einzelbefragungen, nach denen der Ermittler, einer der sechs Freunde und Mitglied des ungarischen Geheimdienstes, in bester Nick-Knatterton-Manier den Mörder entlarvt.

    "Die Wolfsgrube" ist nicht zuletzt wegen einiger ziemlich schludrig verfasster Passagen ein schwächeres Werk von Szilárd Rubin, über den hierzulande sehr wenig bekannt ist.

    "Der ungarische Autor Szilárd Rubin, geboren 1927 in Budapest, gestorben im April 2010, veröffentlichte bereits in den 50er-Jahren Romane. Würdigung als Schriftsteller von Weltrang erfuhr der geistreiche Melancholiker aber erst in den letzten Jahren seines Lebens."

    Rowohlt Berlin stapelt im Klappentext ungewöhnlich tief. Denn Anerkennung erfuhr Rubin nur dank des deutschen Verlages. Es war die deutsche Übersetzung von "Kurze Geschichte einer ewigen Liebe" 2009 und das enthusiastische Echo in der Kritik und bei Lesern, die die Ungarn den vergessenen Rubin wiederentdecken ließ. 2010 folgte in Deutschland der Roman "Eine beinahe alltägliche Geschichte". Hiesigen Lesern gilt Rubin seitdem als ein Autor, der in hitzigen, tragikomischen und raffiniert erzählten Liebesgeschichten das Bild einer von Faschismus und Kommunismus um alle Hoffnungen und Sicherheiten betrogenen Generation entwirft.

    "Als Dichter hat er seine künstlerische Laufbahn kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Er hat das Abitur 1945 gemacht und '46 hat er sich mit Gedichten in einer Zeitschrift gemeldet. Und es war eine komische Periode in der ungarischen Geschichte, das war die Nachkriegszeit, die Befreiung nach dem Krieg, aber kurz nach der Befreiung, bereits '46, mussten viele, unter anderem auch Rubin, schon verspüren, dass es dann doch nicht so leicht mit der Demokratie ist. Weil 1948 es eigentlich dann zu einer nächsten Diktatur leider gekommen ist in Ungarn. Aber diese paar Jahre nach dem Krieg waren für Rubin auch so eine Art eine Vakuumszeit, in der eine sogenannte vierte Dichtergeneration aufgetreten ist, vierte im 20. Jahrhundert. Er publizierte dann in Zeitschriften, die später entweder ganz verboten oder eingestellt wurden, weil sie politisch nicht ganz konform waren. Zum Beispiel "Ujhold", das war ein wichtiges Organ der neuen Dichtergeneration, das heißt "Neuer Mond". Und deshalb wurde Rubin auch mit vielen anderen Dichterkollegen auf eine sogenannte schwarze Liste genommen. Das heißt: Sie haben Publikationsverbot verhängt bekommen."

    Geza Horváth, Professor der Germanistik in Szeged und Kenner des Werkes von Szilárd Rubin, betont, wie stark autobiografisch dessen Romane sind. Wie Attila, der junge, aufstrebende Dichter und Erzähler von Rubins "Kurzen Geschichte von der ewigen Liebe", verhielt sich auch Rubin: Er diente sich den ab 1948 regierenden Kommunisten mit Agitpropromanen an. "Agenten der Hölle" heißt Attilas opportunistisches Werk in der "Kurzen Geschichte". Die autobiografischen Vorbilder für dieses Machwerk benennt Geza Horváth diskret:

    "In den 50er-Jahren hat er sich in der Prosa auch versucht. Und in den 50er-Jahren hat er drei Romane geschrieben, die man nicht zu den besten Romanen in Rubins Oeuvre in der ungarischen Literatur zählen kann."

    Danach scheint Rubin sich besonnen zu haben. 1963 legte er die "Kurze Geschichte von der ewigen Liebe" vor, 1985 "Eine beinahe alltägliche Geschichte" und dazwischen, 1973, die jetzt als dritten Roman übersetzte "Wolfsgrube". Auch wenn die "Kurze Geschichte" trotz starker Konkurrenz etwa durch Magda Szabos Roman "Fresko" oder Geza Ottliks "Schule an der Grenze" durchaus Aufsehen erregte – wer nur alle zehn, zwölf Jahre einen Roman publiziert, darf nicht hoffen, sein Leben als Autor fristen zu können.

    "Er hat für Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet, für Frauenblätter, hat auch gute Artikel dort geschrieben. Nicht nur über die Mode, auch Literatur. Und auch für andere Zeitschriften hat er gearbeitet, auch für Pionierzeitungen zum Beispiel. Also, er hat nie einen richtigen festen Job oder Arbeitsplatz gehabt."

    Rubin, der Regisseur hatte werden wollen, schrieb auch über Filme und lebte zurückgezogen. Sein einziger Dichterfreund scheint Janos Pilinszky gewesen zu sein, ein Lyriker von der Bedeutung Paul Celans, dessen "Lieder über die Vernichtung" György Kurtág vertont hat. Auch mit den Frauen hatte Rubin kein Glück, zwei Ehen scheiterten.

    Seine zwei Liebesromane zeigen die Frauen als unerreichbare, sich beständig entziehende Wesen. Orsolya, also Ursula, und Piroska tragen die Namen von Heiligen und Märtyrerinnen. Und von ihnen erhoffen sich die Männer alles. Ihre erotische und sexuelle Gier ist so verzehrend, weil sie den Glauben an die Zukunft verloren haben und keinen Halt in sich finden. Nur sind die Frauen in ähnlicher Weise existenziell erschüttert. Die Gründe dafür sind bei beiden Geschlechtern, das zeigt Rubin geschickt und unaufdringlich, traumatische historische Ereignisse: die Deportation der Juden 1944 in die deutschen Vernichtungslager durch die Pfeilkreuzler, die Vertreibung der Ungarn aus den nach 1945 verlorenen Landesteilen und die Flucht der deutschen Minderheit aus Siebenbürgen.

    Erschütterte Identitäten und erotische Gier finden sich auch in "Die Wolfsgrube". Fast jeder ist des Mordes verdächtig, fast jeder könnte jemand anders sein: Die hübsche Sprechstundenhilfe ist vielleicht ein Spitzel, hat sie sich doch vor Jahren erfolglos der Staatssicherheit angedient; der erfolgreiche Biochemiker ist vielleicht ein Agent einer feindlichen Macht, die attraktive Ehefrau des Landarztes hat vielleicht den Namen einer im KZ ermordeten Jüdin angenommen. Die Identitätsproblematik ist in "Die Wolfsgrube" allerdings stets durch Beziehungen zum Ausland motiviert – im eher isolierten Ungarn der 70er-Jahre hat Szilard Rubin sein Lebensthema auf die nationale Ebene gehievt, daher der Geheimdienstprolog. Das lässt den Roman seltsam antiquiert wirken.

    Szilárd Rubin hat auch deshalb wenig veröffentlicht, weil ihn ein Thema 30 Jahre lang nicht losgelassen hat. In seinem Nachlass fand man ein Romanmanuskript, das 2012 in Ungarn veröffentlicht wurde.

    "Und zwar geht es darum, dass Rubin irgendwann in den 50er-Jahren im Budapester Kriminalmuseum das Foto eines 19-jährigen Mädchens oder 19-jährigen, jungen Frau, erblickt hat, die als Serienmörderin gefangen genommen und auch hingerichtet wurde. Rubin wurde von diesem Foto dieses bereits hingerichteten Mädchens entzückt. Und da hat er begonnen zu ermitteln, was da wirklich geschehen ist."

    "Die unschuldigen Kinder" heißt Rubins dokumentarischer Roman in der Tradition von Truman Capotes "Kaltblütig", der in Ungarn für Aufsehen sorgte. Rowohlt Berlin will ihn übersetzen lassen.

    Buchinfos:
    Szilárd Rubin: "Die Wolfsgrube", Kriminalroman, Aus dem Ungarischen von Timea Tankó, Rowohlt Berlin, Berlin 2013. 204 Seiten, Preis: 17,95 Euro