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Isländische Sagas
Per GPS zu den Orten der alten Helden

Diebstahl, Verrat, Blutrache: Die isländischen Sagas gewähren einen direkten Blick ins europäische Mittelalter. Immer mehr Saga-Projekte bringen auf Island Neugierige in Kontakt mit den Helden der Überlieferung und dem Leben der Menschen vor über tausend Jahren. Und die überlieferten Orte lassen sich auch per GPS-Karte erkunden.

Von Christiane Zwick | 30.10.2016
    Mann an einem Wasserfall
    Wasserfall auf Island: Es gibt viele mystische Orte und viele Orte, an denen auch Sagen spielen. (imago/Westend61)
    Da sagt Geirmund: "Es soll dir kein Glück bringen, dieses Schwert entwendet zu haben. Es soll dem Mann in der Familie den Tod bringen, dessen Verlust euch am härtesten tritt."
    Die Vorfahren haben es vermasselt. Dass die Geschichte von Gudrun und Kjartan kein gutes Ende nehmen würde, steht von Anfang an fest. Sie beginnt in der Mitte der Laexdala-Saga, einer der berühmtesten isländischen Sagas. Und geografisch bei 65 Grad nördlicher Breite und 21 Grad westlicher Länge, plus ein paar Gequetschten. Der GPS-Punkt ist über eine Schotterstraße zu erreichen. Ein Jeep hält das aus.
    Das Saelingstal, nordöstlich von Reykjavik. Eine breite Badewanne aus feuchten Wiesen mit Wollgras, begrenzt von Vulkanaschehügeln. Eine Stromleitung führt mitten hindurch zu den wenigen Höfen. Vor über tausend Jahren lebten hier die ersten Siedler Islands. Von ihren Leben und überlieferten Kämpfen erzählen die Sagas in einem quasidokumentarischen Stil.
    Man hat das Gefühl, ins Mittelalter hineinzuhorchen, das macht diese Literatur einzigartig. Ihre Schauplätze lassen sich seit Kurzem per Navi ansteuern. Die britische Historikerin Emily Lethbridge hat sie aufgespürt. Eigentlich hatte sie nur ihre Isländisch-Kenntnisse verbessern wollen:
    "Ich habe für einen Milchbauern auf einem Hof im Norden gearbeitet. Dort habe ich gemerkt, wie viele Ortsnamen von heute genau dieselben sind, wie in den Sagatexten. 2011 nahm ich mir ein ganzes Jahr, um, in einem alten Krankenwagen übernachtend, Island zu bereisen. Ich war alleine unterwegs, hatte alle Sagas bei mir und mein Ziel war es, die Landschaften der Sagas zu erkunden."
    Onlinekarte mit GPS-Punkten
    Das Ergebnis ihrer Recherchen, zu denen viele Einheimische beigetragen haben, ist eine Onlinekarte, die vor allem über die Küstenregionen ein feines Netz von Erzählungen legt. Saga-Erkenntnis Nummer eins: Noch im entlegensten Fjord haben sich Dramen abgespielt.
    "Mit der Saga-Map kann man sich eine Saga aussuchen und nachschauen, wo die Ereignisse darin verortet sind. Und dann kann man den Text der Saga auf der einen Seite des Bildschirms lesen. Und wenn man auf die Ortsnamen darin klickt, sind sie mit der Karte verlinkt."
    Jeder Schauplatz erhielt einen roten Punkt auf der Island-Karte. Rund 1500 sind es insgesamt. Einer davon bezeichnet die Stelle, an der sich Gudrun und Kjartan ineinander verliebten.
    Kjartan ging nirgends hin, wenn Bolli ihn nicht begleitete. Er suchte oft die heißen Quellen im Saelingstal auf. Und stets fügte es sich, dass sich auch Gudrun dort gerade aufhielt. Kjartan unterhielt sich gern mit ihr, denn sie war klug und hatte eine gewitzte Art, sich auszudrücken.
    "Sie lernt ihn in Laugar kennen, was übersetzt Bad heißt. Ihr Hot Pot wurde nachgebaut. Und es ist ziemlich nett, dort zu baden und über Gudrun und Kjartan nachzudenken."
    Ein warmer Bach rinnt in Laugar die Felsspalte hinab und fließt in ein Rund aus Feldsteinen. Das Wasser riecht leicht nach Schwefel. Zehn Leute passen ins Gudrunsbad. In Hot Pots, isländisch Heitur Pottir, bildet sich, wie im Fußballstadion, schnell ein Gemeinschaftsgefühl. Und irgendwer hat immer etwas zu erzählen.
    Weiter im Text: Kjartan will, wie viele junge Männer, nach Norwegen, um am Königshof zu Geld und Ruhm zu kommen. Er investiert in ein Schiff und plant die Überfahrt. Seine Liebste stellt er vor vollendete Tatsachen.
    Wenig später ritt Kjartan nach Laugar und berichtete Gudrun von seiner bevorstehenden Auslandsreise. "Schnell hast du dich dazu entschlossen, Kjartan", sagte sie und ließ ein paar Bemerkungen fallen, denen Kjartan entnahm, dass es ihr gar nicht gefiel.
    "Gudrun würde ich als Berühmtheit, als Superstar der Sagas beschreiben. In den Sagas ist sie die weiseste und schönste Heldin. Sie hatte die bestaussehenden Männer, war vier Mal verheiratet. Eine coole Frau. Und so spiele ich sie auch."
    TV-Star Lilja Nótt bringt in dieser Saison nicht nur Gudruns Story, sondern alle 43 erhaltenen Sagas auf die Bühne, rasant geschnitten, in einer Comedy-Version. Die "Icelandic Sagas – The Greatest Hits" laufen im Konzerthaus Harpa, dem spiegelnden Glasquader im Zentrum von Reykjavik. Aus dem Fenster der Umkleide sieht man die schneebedeckten Berge von Snaefellsnes. Für Eingeweihte: Saga-Orte.
    "Als Kind bin ich dort aufgewachsen, wo die Njals-Saga angesiedelt ist. Und ich bin Ort im Borgarfjördur gewesen, wo die Egils-Saga spielt. Die Wahrscheinlichkeit, an einem Saga-Ort aufzuwachsen, ist groß in Island. Man lebt an denselben Orten."
    Die Lederjacke landet auf einem Stuhl. Lilja Nótt schlüpft aus ihren Leggins und hinein in ein grünes Miederkleid aus Leinen. Dass die Sagas bis heute zitiert und inszeniert werden, liege daran, weil sie ein Fixpunkt im kulturellen Gedächtnis der Nation seien, meint die Schauspielerin:
    "In Island waren Sagas aus immer anderen Gründen wichtig. Während der Finanzkrise verglichen wir die Raubzüge der Banker mit denen der Wikinger. Im Unabhängigkeitskampf erzählten die Sagas uns, wo wir herkamen. Mich selbst faszinieren die Frauen der Sagas, ihre Stärke. Sie sind, anders als in modernen Medien, gleichwertige Heldinnen."
    Was gleich zu beweisen wäre. Nur noch zehn Minuten bis zum Einlass. Zurück zu Gudrun. Jahrelang hat sie kein Wort von Kjartan gehört. Jetzt kehrt er nach Island zurück. -Unaufmerksamkeit rächt sich. Und jedes Handeln oder Nichthandeln löst eine Kettenreaktion an Konsequenzen aus.
    Kjartan und Kalf stachen in See. Sie hatten guten Wind und brauchten nur kurze Zeit für die Überfahrt. Sie erreichten den Borgarfjord und machten an der Hvita fest. Da erfuhr er auch von Gudruns Heirat, ließ sich aber nicht anmerken.
    Überreste eines alten Langhauses besichtigen
    Zu spät gekommen. Gudrun hat Bolli geheiratet, Kjartans Stiefbruder und Freund. Gemeinsam bewirtschaften sie einen Hof. Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie der ausgesehen haben dürfte, muss man nur die Aðalstræti hinüberlaufen, von der Harpa ein Katzensprung. Fünf Meter unter Straßenniveau, in einem Raum, der einer Tiefgarage ähnelt, beleuchten Spotlights ein Oval aus Steinen.
    "Was wir hier sehen, sind die Reste eines Hauses, das 2001 im Zentrum von Reykjavik ausgegraben wurde. Es ist ein Langhaus aus der ersten Zeit der Besiedlung Islands, es datiert um das Jahr 870. Es ist rund 20 Meter lang, ein ganz schön großes Gebäude. Wenn man drum herum geht, sieht man mehrere Eingänge und vom Haupteingang aus erkennt man die Feuerstelle in der Mitte."
    Das Feuer wird auf Plexiglas projiziert. Den Alltag der Siedler vermitteln in der Settlement-Ausstellung Videoschleifen auf der umlaufenden Vitrine. Daumengroße weiße Silhouetten scheren Schafe, weben und trocknen Fische. Auf einem Monitor wird das Gebäude rekonstruiert, mit Holzgerüst, Lehmwänden und Grasdach. Fenster gibt es nicht.
    Die Winter waren nicht nur draußen dunkel. Ein Glück, wenn Gäste kamen. Über die Vorstellungen von Gemütlichkeit weiß Emily Lethbridge mehr.
    "Die Sagas geben uns einen Eindruck davon, wie so ein Langhaus eingerichtet war. Es war mit Holzpaneelen ausgekleidet, Teppiche hingen an den Wänden und an den Langseiten standen Bänke."
    "Hrefna wird auf dem Hochsitz sitzen, und man wird ihr vor allen anderen die größte Ehre erweisen, solange ich lebe", sagte Kjartan. Bis dahin war der Hochsitz auf Hjardarholt und anderswo immer Gudrun vorbehalten gewesen.
    Kjartan erweist sich als schlechter Verlierer. Er provoziert Gudrun bei jeder Gelegenheit. Und die zahlt es ihm heim. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Auf einem mit Kunstrasen ausgelegten Laufsteg dreschen Lilja Nótt und ihr Mitspieler sich die imaginären Bälle um die Ohren: Mord – Rache – Vergeltung – Rache. So klingt eine Generationen andauernde Fehde in Kurzfassung. Wenn aus Drama Comedy wird. So einfach ist das. Warum aber stiftet Gudrun ihren Ehemann an, Kjartan zu ermorden?
    "Darüber streiten die Leute seit Hunderten von Jahren. Was ich glaube, warum Gudrun Kjartan durch Bolli töten ließ, ist Folgendes: Als Frau ihrer Zeit hatte sie keine Wahl. Sie war stolz und musste ihre gesellschaftliche Stellung verteidigen. Und ihre Würde. Die Ehre war damals das Wichtigste, was man besaß."
    In Kapitel 49 reiten Bolli und Kjartan durch das Svínadal ihrem Verderben entgegen. Die Schlucht Hafragil ist Schauplatz ihres Kampfes. Auch für sie hat Emily Lethbridge einen GPS-Punkt gesetzt. Nur der in der Laexdala-Saga beschriebene Felsen bleibt umstritten.
    "Kjartan wurde von seinem Schwager getötet, als er mit dem Rücken zu einem Felsen stand, der ihm den Rücken freihalten sollte. Und die Leute haben etliche Argumente für diesen oder jeden Stein hervorgebracht, dass es genau der aus der Saga sei."
    Bolli versetzte Kjartan den Todesstreich. Sofort danach ließ er sich neben Kjartan nieder, nahm seinen Oberkörper auf den Schoß und Kjartan starb auf Bollis Knien.
    Gudrun verliert auch Bolli, heiratet erneut und zieht am Ende als erste Nonne Islands nach Snaefellsnes. In Helgafell ist sie begraben. Ein unwirklich runder Granithügel erhebt sich hier aus der Ebene, von oben überblickt man den Breidafjord und sieht in der Ferne den Gletscher des Snaefellsjökull.
    Die alten Geschichten liefern einen guten Anlass, um Gegenden zu erkunden, die weitab der viel besuchten Sehenswürdigkeiten Islands liegen. Und die Heldinnen und Helden der Sagas geben auch heute noch zu denken.