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Islam und/oder Sex

Die Ehre spielt in vielen muslimischen Familien eine große Rolle. Das führt gerade bei Fragen der sexuellen Selbstbestimmung zu erheblichen Konflikten, etwa bei der Frage der Jungfräulichkeit oder bei Homosexualität.

Von Jan Kuhlmann | 29.03.2012
    Muslimische Jugendliche aus konservativem Haus sind bei ihrer Partnerwahl häufig abhängig von den Vorstellungen der Eltern. Homosexualität gilt als schwere Sünde. Doch es ist die Tradition, nicht die Religion, die einem liberalen Umgang entgegensteht:

    "Mein Junge! - Hallo Baba! Wie geht's dir, Baba? - Gut, gut, komm her und setz dich zu deinem Vater!"

    Eine muslimische Familie irgendwo in Berlin, der Vater trifft seinem Sohn. Die beiden haben sich eine Weile nicht gesehen. Der Sohn erzählt, dass er heiraten will. Der Vater ist begeistert – bis er hört, dass die Auserwählte Anna heißt, aus Schweden kommt und vor allem keine Muslimin ist.

    "Ich kann's nicht glauben, dass du dich zu mir setzt und sowas sagen kannst zu deinem Vater – Zwing mich jetzt bitte nicht, mich zwischen dir und ihr zu entscheiden – Du wagst es, so etwas zu sagen. Eine Entscheidung zwischen Anna Schmidt aus Schweden und deinem Vater. Der dich zu dem gemacht hat, was du hier bist gerade. Der für dich arbeiten war. Ich habe alles für dich gegeben, und du wagst es, dich hier hinzusetzen und mir etwas von einer Entscheidung zu sagen."

    Diese Szene ist erdacht – aber so könnte dieser Streit tatsächlich ausgetragen werden. Nachgespielt haben den Dialog zwei junge Muslime des Projektes "Heroes" aus Berlin-Neukölln, einem Bezirk mit hohem muslimischem Migrantenanteil. Bei "Heroes" setzen sich junge Männer für Gleichberechtigung und sexuelle Selbstbestimmung ein. In diesem Rollenspiel zeigen sie einen typischen Konflikt aus einer muslimischen Familie mit traditionellen, konservativen Normen und Werten. Weder Söhne noch Töchter sind frei in der Partnerwahl. Sie leben oft in patriarchalischen Strukturen mit festen Rollen für Frauen und Männer, sagt der Psychologe Ahmad Mansour, gebürtiger Palästinenser und Verantwortlicher bei "Heroes":

    "Und wenn man abweicht und was anderes will, sich selbst entfaltet und seine Sexualität anders leben will, dann wird das nicht akzeptiert und gegenseitig kontrolliert."

    Vor allem Töchter in muslimischen Familien mit traditionellen Werten müssen sich an strenge Regeln halten. Absolut verboten sind Beziehungen vor der Ehe – von sexuellen Kontakten gar nicht zu reden. Die Jungfräulichkeit der unverheirateten Frau ist in diesen Strukturen eines der höchsten Güter. Die Männer – vor allem die Väter, aber auch die Söhne – haben die Pflicht, sie zu verteidigen. Hinter diesen rigiden Regeln steckt weniger ein strenger Glauben als vielmehr ein strikter Begriff von Ehre, der aus vorislamischer Zeit stammt, sagt Ahmet Toprak, Professor an der Uni Dortmund. Er beschäftigt sich in seinem gerade veröffentlichen Buch "Unsere Ehre ist uns heilig" mit dem Ehrbegriff muslimischer Familien in Deutschland. Früher, erklärt er, sollte die Ehre Frauen vor Vergewaltigung schützen:

    "Die Problematik besteht darin, dass natürlich dieser Schutz heutzutage nicht mehr funktioniert, weil man kann auch Frauen anders schützen. Aber die Tradition ist weiterhin geblieben, weil das auch natürlich den Männern eine bestimmte Macht gibt. Macht im Sinne von: Ich darf über die Frau bestimmen."

    Weshalb sich der Ehrbegriff bis heute gehalten hat. Die Väter stellen die Regeln in der Familie auf und setzen sie durch. Ihre Söhne verpflichten sie dazu, auf die Schwestern aufzupassen. Doch es wäre allzu einfach, allein mit dem Finger auf die Männer zu zeigen. Sie selbst nämlich sind eingebunden in rigide gesellschaftliche Konventionen, kontrolliert vom "Dorfauge", wie "Heroes"-Mitarbeiter Ahmad Mansour es nennt.

    "Die Tat an sich ist nicht wichtig. Was wichtig ist: Was die Menschen über mich sagen. Wenn die Menschen oder mein Umfeld rausfindet, dass meine Tochter keine Jungfrau mehr ist, dann ist die Ehre beschmutzt."

    Das "Dorfauge" - es ist überall und übt enormen gesellschaftlichen Druck aus.

    "Diese Menschen erleben keine Selbstentfaltung. Das heißt, ihre eigene Identität ist von der Gruppe abhängig. Und wenn die Gruppe mich abstößt, dann fühle ich mich in meiner Existenz bedroht. Und deshalb reagiere ich auch sehr oft sehr aggressiv gegenüber Beschuldigungen oder gegenüber Vorstelllungen von Ehrenbeschmutzung und so weiter und so fort."

    Verpönt ist in solchen traditionellen muslimischen Milieus auch Homosexualität. Studien zeigen, dass Homophobie unter konservativ-religiösen Muslimen verbreitet ist – verlässliche Zahlen allerdings gibt es nicht, sagt der Dortmunder Professor Ahmet Toprak:

    "Ich würde sagen, in traditionellen, religiösen Familien sehr verbreitet, in modernen Familien kaum verbreitet. Es gab ja eine Studie in Berlin, die festgelegt hat, dass 71 Prozent der muslimischen Jugendlichen in der Schule homophobe Gedanken hegen. Und bei Deutschen war es knapp bei 48 Prozent. Aber das war nicht repräsentativ, war nur in Berlin in einigen Schulen. Also ich kann mir vorstellen, dass solche Sachen rauskommen."

    Homosexualität, sie gilt als abnorm, sogar als Krankheit, die manche Eltern mit der Hilfe von vermeintlichen Teufelsaustreibern kurieren wollen. Das sind Imame, deren einzige Qualifikation oft darin besteht, dass sie den Koran auswendig gelernt haben.

    Bei der Ablehnung von Homosexualität spielt der Glauben eine große Rolle. Schon vor Hunderten Jahren haben Religionsgelehrte zur gleichgeschlechtlichen Liebe Ansichten entwickelt, an die sich viele Muslime bis heute halten. Wer den Islam traditionell auslege, der müsse Homosexualität ablehnen, sagt der muslimische Koran-Fachmann Andreas Ismail Mohr von der Freien Universität Berlin.

    "Es gibt eine Art Konsens, dass gleichgeschlechtliche Handlungen, das heißt Geschlechtsverkehr nicht erlaubt ist und als Sünde gilt. Das wird vor allem auf dem Propheten zugeschriebene Sprüche, also Hadithe, gestützt. Aber auf den Koran kann es sich nur indirekt gründen. Man zieht Koranverse herbei, die man als Argument dafür anführt, dass es so sein soll. Aber im Koran gibt es keine explizite Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität."

    Im heiligen Buch der Muslime wird die Geschichte von Lot erzählt. In der Sure 7 des Korans warnt Lot die Männer seines Volkes davor, mit anderen Männern statt mit Frauen zu verkehren. Traditionelle Interpreten lesen aus dieser Passage ein Verbot der Homosexualität – Andreas Ismail Mohr dagegen sieht bei der Auslegung Spielraum. Der Koran spreche an dieser Stelle nicht ausdrücklich von Sex, schon gar nicht von Homosexualität. Mohr hält Interpretationen für möglich, die in die offenere Gesellschaft Deutschlands passen:

    "Unsere Gesellschaft bietet schon eher die Möglichkeit, jetzt eine eigene Interpretationen von islamischen, religiösen Quellen anzustellen und eventuell zu sagen: Ja, ich lebe das jetzt eben so, wie ich es für richtig halte."

    Zu einer flexibleren Sichtweise passt auch, dass homoerotische Erzählungen in der arabischen und persischen Literatur keine Seltenheit sind. Ohnehin ist es eine Frage, was der Islam verbietet – und eine andere, wie die Muslime damit in der Praxis umgehen. Muslimische Organisationen in Deutschland tun sich zwar mit Homosexualität schwer, verurteilen aber Schwule und Lesben nicht. So erklärten mehrere konservative islamische Verbände aus Berlin im Jahr 2008:

    "Wir sind der Überzeugung, dass die sexuelle Orientierung Privatsache ist. Ob wir etwas gutheißen oder nicht, wird und kann die Freiheit des Einzelnen in keiner Weise beschränken. Für uns handelt hier jeder Mensch eigenverantwortlich und wird im Jenseits vor seinem Schöpfer für sein gesamtes Handeln Rechenschaft ablegen müssen."

    In der Praxis versuchen Muslime in Deutschland oft, Konflikten zwischen Werten und Normen einerseits und der Realität andererseits pragmatisch zu begegnen – wie Rabea Müller vom Liberal-Islamischen Bund aus Erfahrung weiß. Es sei oft eine Frage, ob sich Homosexuelle outen oder nicht, sagte sie vor Kurzem bei einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin:

    "Solange da nicht öffentlich drüber geredet wird, wird das von vielen einfach ignoriert. Also es gibt Eltern, die ihren Sohn besuchen, der mit seinem Freund zusammenlebt, und das ignorieren, dass die gemeinsam zum Beispiel ein Schlafzimmer haben. Oder die dieses Thema überhaupt nicht auf Tapet bringen. Hauptsache, es wird nicht drüber gesprochen. Solange das unausgesprochen ist."

    Der Ehrbegriff ist komplex – und er verändert sich. Der Dortmunder Professor Ahmet Toprak beobachtet dabei allerdings, dass die jüngere Generation nicht zwangsläufig einen lockerern Umgang pflegt.

    "Die toleranteste Generation ist die erste Generation. Die ersten Gastarbeiter, die sind wirklich tolerant, weil die einfach keine hohen Ansprüche hatten, als sie nach Deutschland kamen. Ich bin der Meinung, dass die dritte Generation, wenn bestimmte Faktoren nicht eintreffen – Bildungsaspiration, Bildungswilligkeit, Bildungserfolg, Schulerfolg – wenn die nicht kommen, dann sind sie, was die Werte, Moral angeht, sehr streng. Und vor allem viel strenger als ihre Eltern und Großeltern. Das ist das Erstaunliche."

    Dort will auch das Berliner Projekt "Heroes" ansetzen. Ehre, sexuelle Selbstbestimmung, auch Homosexualität – das sind die Themen, über die die jungen Muslime von "Heroes" mit Jugendlichen reden. In Workshops diskutieren sie über typische Konflikte innerhalb der Familien. "Heroes" will kein Richtig oder Falsch vorgeben, sondern die Jugendlichen allein zum Nachdenken bringen. Und sie sollen Konfliktlösung lernen, damit Streitereien zu Hause möglichst anders enden als im Rollenspiel. Dort brüllt der Vater den Sohn zum Schluss nur noch an:

    "Verschwinde gefälligst! Ich möchte dich nicht mehr sehen! Niemals wirst du den Segen für diese Hochzeit von mir kriegen! Raus hier!"