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Islamische Aufklärung

Wenn von arabischen Philosophen die Rede ist, sind meist orientalische Denker des Mittelalters gemeint. Zeitgenössische arabische Denker werden selten übersetzt. Eine Ausnahme ist Mohammed Abed-Al-Jabri. Seine "Kritik der arabischen Vernunft" hat das Zeug, westliche Vorurteile gegen den Strich zu bürsten.

Von Stefan Weidner | 20.08.2009
    Habermas, Sloterdijk oder Gadamer sind in der arabischen Welt keine unbekannten, aber wenn wir in Europa arabische Philosophie sagen, meinen wir das Mittelalter. Die zeitgenössischen arabischen Denker werden nicht übersetzt und fristen trotz der Neuentdeckung alles Islamischen nach 2001 sogar an den orientalistischen Fakultäten ein Nischendasein. Dass angesichts dieser Wissenslücke Aufklärung und Islam als unvereinbar gelten, versteht sich. Die jetzt auf deutsch vorgelegte, ursprünglich für ein französisches Publikum erstellte Einführung in die "Kritik der arabischen Vernunft" des 1935 geborenen Marokkaners Mohammed Abed Al-Jabri hat das Zeug, unsere Vorurteile gegen den Strich zu bürsten.

    Al-Jabris Kritik an der Tradition geht von der verblüffenden Erkenntnis aus, dass in der arabisch-islamischen Kultur die Texte ihre Leser lesen, nicht umgekehrt.

    "Betrachten wir zum Beispiel das Verhältnis des arabischen Lesers zur arabischen Sprache ( ... ): Diese Sprache, die über mehr als 14 Jahrhunderte unverändert blieb, prägt die Kultur und das Denken, ohne wiederum von ihr geprägt zu werden. Die Sprache absorbiert den Leser, da sie einen sakralen Einfluss auf ihn ausübt und zu seinen Tabus gehört."

    Die uns selbstverständliche Trennung von Subjekt und Objekt ist nach Al-Jabri in der Begegnung mit der religiösen Überlieferung für die meisten arabischen Leser außer Kraft gesetzt. Ein Beispiel ist der auswendig gelernte, aber unverstandene Korantext, wie er in den Koranschulen oder angereichert um die klassischen Lesarten in den religiösen Lehranstalten vermittelt wird. Der Leser hat keinerlei Autonomie gegenüber dem eingetrichterten Text(verständnis), er wird sein Objekt. Diese kulturelle Grundkonstellation setzt sich fort im Studium des Hadith, der als normativ geltenden Aussprüche des Propheten Mohammed, sowie der daraus entstandenen islamischen Rechtsschulen. Neues juristisches Wissen kann nur durch Analogieschlüsse generiert werden. Da alle Analogieschlüsse auf die Urtexte zurückgehen, bleibt das derart gewonnene Wissen zwar religiös fundiert, ist jedoch im selben Moment willkürlich und beschränkt. Stimmt es also, dass die islamische Kultur keine nennenswerten aufklärerischen Tendenzen kennt?

    Nach Al-Jabri ist diese heute im rückwärtsgewandten sunnitischen Mainstream beheimatete Wissenskultur nur eine von drei, die arabisch-islamische Welt im Mittelalter prägenden Denkstrukturen gewesen. Die anderen sind die mystische Tradition und die aristotelische Rationalität. Die mystische, deren Einfluss Al-Jabri für ebenso verderblich hält wie die traditionalistische, neigt zu einer irrationalen Innerlichkeit, wurzelt in der alten iranischen Gnosis und wurde in der islamischen Geschichte meistens durch die Schiiten repräsentiert; die rationale war, nach einer Blütezeit im Bagdad des 9. Jahrhunderts, vor allem im Westen der arabischen Welt beheimatet, in Nordafrika und Andalusien. Ihr bekanntester Exponent ist der 1198 verstorbene Averroes gewesen. Diese rationale Strömung erkennt ebenso wie die mystische die Autorität der religiösen Tradition an, weist sie jedoch in ihre Grenzen. Beispielsweise rettet Averroes den Kausalitätsbegriff vor dem religiösen Dogma absoluter Kontingenz, der Erschaffung jedes einzelnen Aktes durch Gott:

    "Im Denken Averroes ist kein Platz für zufällige Ereignisse. Alles ist durch Ursache-Wirkungs-Beziehungen miteinander verbunden. Die Freiheit selbst ist in diesem kausalen Netz eingeschlossen. Immer wenn der Mensch die wahren Ursachen kennt, wird er fähig, sein Begehren, seinen Willen zu erfüllen, und darin besteht seine Freiheit."

    Auch im Bereich der Rechtswissenschaft ist Averroes derjenigen Schule zuzurechnen, die menschlichem Erwägen einen großen Spielraum einräumt. In dieser Sicht ist die Scharia, das islamische Recht, in ständiger Entwicklung begriffen und beschränkt sich nicht auf den Koran oder die überlieferten Sprüche des Propheten.

    Dem Historiker dürfte dieses dreiteilige, von Al-Jabri durch die Epochen der arabischen Geschichte nachgezeichnete Schema unterschiedlicher Wissensproduktionen forciert anmuten. Es gelingt ihm jedoch, die unübersichtliche arabische Geistesgeschichte auf schlüssige und inspirierende Weise lesbar zu machen. Al-Jabri zeigt auf, wie die arabische Kultur mit dem Untergang Andalusiens vom Weg zu einer eigenen Aufklärung abgekommen ist und wo sie, wenn sie eine genuine, nicht vom Westen importierte Rationalität entwickeln wollte, wieder anzuknüpfen hätte. Die Pointe liegt darin, dass laut Al-Jabri ausgerechnet das christliche Europa das rationalistische Erbe von Averroes angetreten und vollendet hat.

    "In der Tat haben wir Araber nach Averroes am Rande der Geschichte gelebt. Die Europäer lebten ihrerseits die Geschichte, aus der wir herausgetreten waren, weil sie es verstanden, sich Averroes anzueignen und bis zum heutigen Tag das averroistische Moment zu leben."

    Ob dies zutrifft oder nicht: Im Rahmen von Al-Jabris Projekts einer arabischen Aufklärung kann so die abendländische Philosophietradition als ursprünglich arabische wieder salonfähig gemacht werden, ohne dass dies als Verwestlichung aufgefasst werden müsste. In jedem Fall handelt es sich bei der "Kritik der arabischen Vernunft" um ein inspirierendes Beispiel für die aufklärerische arabische Selbstkritik, die von den westlichen Islamkritikern immer wieder gefordert wird.

    Mohammed Abed Al-Jabri: "Kritik der arabischen Vernunft. Die Einführung." Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky und Sarah Dornhof. Perlenverlag, 232 Seiten, 19,80 Euro.