Donnerstag, 25. April 2024

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Italien
Erinnerungen an den Urlaub am Meer

Keine durchgängige Autobahn, das Einkaufen auf dem Fischmarkt, die Telefonzelle als Teil des Abendrituals: Das Gefühl von Freiheit und unbegrenzter Freude prägte die Kindheitserinnerungen an den Urlaub an der Adria-Küste. Italien war eine andere Welt.

Von Cristiana Coletti | 17.06.2018
    Touristen erholen sich am Strand an der Westküste Sardiniens
    "Die Eltern waren uns so nah wie nie. Am Meer waren sie auch Kinder", erinnert sich Cristiana Coletti. (dpa/Roland Holschneider)
    Ein italienisches Restaurant in Deutschland ist für mich wie ein Zuhause. Natürlich kann ich hier gute Spaghetti essen und mich auf Italienisch unterhalten. Das Besondere dabei ist aber diese unverwechselbare Stimmung, die mich manchmal vom Gespräch sogar ablenkt und unerwartete Erinnerungen hervorruft.
    Musik - Gianni Morandi: "Occhi di ragazza"
    Hörten wir nicht dieses Lied damals an jenem hellen Sommertag, als meine Mutter zu uns Kindern sagte: "Wir sehen bald das Meer"? Ich war erst vier Jahre alt, aber kann mich noch genau an den Plattenspieler im Schlafzimmer meiner Eltern erinnern. Meine Schwester Chiara und ich hüpften vor Freude auf und ab, sangen und wiederholten gleichzeitig "Il mare! Il mare!"
    "Wir waren alle glücklich"
    Licia: "Ich erinnere mich sehr gut an das erste Mal! Dein Papa Carlo kam nachhause und sagte zu mir: 'Komm, bereite Dich vor, wir fahren alle in Urlaub ans Meer!' In zehn Minuten habe ich die Koffer gepackt, während er eure Kinderbettchen zum Transportieren abgebaut hat. Es ging blitzschnell! Ich glaube, dass wir in einer halben Stunde schon voller Enthusiasmus im Auto saßen! Dein erstes Auto, Carlo."
    Carlo: "Wir fuhren mit dem A 112 von Auto Bianchi. Unser kleiner, weißer A 112."
    Licia: "Erinnerst du dich, wie voll das Auto war (lacht)?"
    Carlo: "Darin waren die zwei Kinderbettchen aus Holz, das Gepäck und wir vier! Cristiana, du hast hinten gesessen, man konnte deinen kleinen Kopf mit den dunklen Löckchen in dem engen Auto kaum sehen!"
    Licia: "Ich sah nur dein Gesichtchen zwischen einer Matratze und einem Bettchen! Chiara saß vorne auf meinem Schoß. Und du warst so still und ruhig dort hinten und schautest während der ganzen Reise aus dem Fenster. Du hattest das Meer noch nie gesehen und warst einfach glücklich!"
    Carlo: "Wir waren alle glücklich!"
    Licia, meine Mutter, war 22 und mein Vater 29 Jahre alt. Sie studierte noch, um Lehrerin zu werden. Er arbeitete als Vertreter und musste manchmal halten, um seine Kunden zu besuchen, oder weil wir Kinder Durst oder Hunger hatten. Die Fahrt mit unserem kleinen Auto dauerte damals mindestens vier Stunden und nicht zwei wie heute.
    Musik - Gabriella Ferri: "Tutti al mare"
    Es gab damals kein Radio und natürlich noch keinen Kassettenplayer in unserem Auto, aber wir waren froh und sangen laut unsere Lieblingslieder.
    Keine Hemmung, keine Gefahr
    Carlo: "Und als wir plötzlich das Meer sahen! Cristiana, du warst euphorisch und wild! Ich sagte zu dir 'Chica, das Meer, das Meer!' Du hast gelacht, geschaut und geschrien: 'Il mare! Il mare!' Es gab noch eine Strecke am Meer entlang zu fahren, um den Ort zu erreichen, wo ich ein Zimmer gemietet hatte. Aber ich musste sofort halten, weil ihr es nicht erwarten konntet, das Meer zu sehen und zu berühren!"
    Licia: "Verwunderung in den Augen und ein Lächeln im Mund! So wart ihr beide Mädchen! Glücklich! Weil alles für euch neu war. Ihr habt kaum Fernsehen geschaut. Bis 1978 gab es praktisch keinen Farbfernseher und keine Sendungen für Kinder. Ihr habt die Welt mit euren eigenen Augen und Händen direkt erfahren und kennengelernt. Das Meer zu sehen und zu erleben bedeutete für euch, die Welt zu entdecken!"
    Ich erinnere mich noch an dieses gemeinsame Gefühl der Freiheit und der unbegrenzten Freude. Es gab keine Hemmung. Keine Gefahr. Und die Eltern waren uns nah wie noch nie. Am Meer waren auch sie Kinder!
    Carlo: "Wir waren jung und – vor allem – wir kamen aus einer anderen Epoche. Die Gesellschaft war dabei, sich zu verändern. Auch unsere ökonomische Lage als Familie verbesserte sich und das, was wir uns früher nicht erlauben konnten, wurde nach und nach möglich. Das Meer! Dort spielten wir im Wasser, wir konnten schwimmen und in der Sonne liegen... Es waren ganz einfache Dinge. Aber am Meer zu sein, das war noch ein wahres Ereignis. Das war ein Glück!"
    Musik - Enzo Jannacci:"Vengo anch´io"
    Porto Recanati, ein kleiner Ort an der Adria. Das ist die Stadt, in die wir in Urlaub fuhren. Dank eines Kollegen meines Vaters kamen wir zu unserer ersten Unterkunft. Wir wohnten in einem Zimmer bei seiner Tante. Sie hieß Nerina und wurde für Chiara und mich wie eine Großmutter.
    Carlo: "Porto Recanati war ein wunderbares Dorf. Alle kannten sich. Wie alle anderen kleinen Orte am Meer in den 'Marken' war Porto Recanati damals noch nicht touristisch geprägt. Die meisten Urlauber kamen aus der Umgebung. Und es gab einfache Rituale, die uns alle verbunden haben. Wir trafen uns am Strand, und am Abend gingen wir alle flanieren und aßen das leckere Eis von Ferruccio an der Piazza mit dem Turm. Es gab ein Kino, wo wir uns alle wieder getroffen haben. Wir fühlten uns genauso wie die Einwohner, Teil derselben Gemeinde."
    Licia: "Es stimmt! Und ich erinnere mich daran, dass wir uns alle abends auch bei der SIP trafen – die einzige Telefongesellschaft Italiens damals. Es gab dort mehrere Telefonzellen in einem Raum. Man konnte mit Jetons anrufen oder warten, dass eine Angestellte die Leitung in einer Telefonzelle freischaltete. Wir mussten Schlange stehen! Alle waren da, weil alle – wie wir auch – mit den Großeltern und den Verwandten telefonieren mussten. Und wehe, wenn man nicht anrief! Das war auch ein Ritual – wie das Eis am Abend!"
    Carlo: "Ach ja! Die Telefonzellen am Abend... Ich hatte es ganz vergessen!"
    "Alles war ganz einfach und wild"
    Eines unserer Rituale war das Einkaufen auf dem Fischmarkt. Wie ich es geliebt habe! Der starke Geruch, die bunte Mischung von Meeresfrüchten, Scampis, andere Krustentiere – und der lustige Dialekt der Verkäufer, der für mich neu war.
    Ciriaco: "Als du in den Siebziger Jahren hier warst, lebten wir vor allem noch als Fischer. Später hat sich alles stärker auf den Tourismus konzentriert. Es gab noch den Markt und die 'vongolare', die typischen Fischerboote an der Adria. Man konnte den Fisch früh am Vormittag direkt am Ufer kaufen. Und in der Regel war der Fischer ein Freund oder ein Verwandter von uns. Hast du auch die Verkäuferinnen mit dem schwarzen Rock damals gesehen? Sie riefen: 'Pesce! Pesce!' So was gibt es leider nicht mehr heute."
    Ciriaco, einen alten Einwohner von Porto Recanati, habe ich neulich bei meiner Reise in die Vergangenheit getroffen. War es damals wirklich anders, Ciriaco?
    Ciriaco: "Erinnerst du dich an die bunten Zelte und an die Fischerboote am Strand? Es gab keine Restaurants und keine besonderen Anlagen für die Feriengäste. Es gab viele freie Strände und alles war ganz einfach und wild."
    Mina: "Vorrei che fosse amore" (wie aus einem alten Plattenspieler oder Lautsprecher am Strand)
    Licia: "Cristiana, du warst der Kobold des Strandes, weil du immer gelacht und gesungen hast!"
    Carlo: "Du hast alle Leute am Strand fröhlich gemacht! Am Strand gab es nichts Besonderes. Es gab nur eine Schaukel. Du bist zur Schaukel gerannt und hast mich gerufen: "Carlo! Anschieben! Anschieben!"
    Licia: "'Auf den Mond!', sagtest du immer, 'Auf den Mond!'"
    Carlo: "Ja, es stimmt! Und alle haben sich umgedreht und haben sich gefreut!"
    Ja, ich muss es gestehen! Damals begann meine fulminante Karriere als Sängerin.
    Musik - Mina: "Tintarella di luna"
    "Jeder denkt bei diesen Liedern an den Urlaub am Meer"
    Soweit ich mich daran erinnern kann, waren meine Auftritte vor dem kleinen Publikum jedes Sonnenschirms die ersten, erfolgreichsten und letzten meines Lebens! Selbstverständlich vergaß ich nie, nach meiner Interpretation selbst in die Hände zu klatschen, gefolgt vom Beifall der Begeisterten in Badehosen.
    Es waren Lieder der Siebziger Jahre, aber auch bekannte Hits der Sechziger, die ich von meinen Eltern gelernt hatte. Lieder aus ihren früheren Sommern am Meer.
    Musik - Gino Paoli: "Sapore di Sale
    Carlo: "'Sapore di sale' von Gino Paoli ist eines der canzoni des Sommers 1963. Ich war in Riccione und dieses Lied ging mir unter die Haut wie die Sonne. Ein sehr schönes Lied!"
    Maraldi: "Der bekannte Film von Carlo Vanzina 'Sapore di mare' erzählt die Erinnerung an einen Urlaub am Meer im Jahre 1964 und ist um die Sommerhits der Sechziger Jahre herum gebaut. Es sind Lieder, die für einen Italiener eine starke Konnotation haben. Jeder von uns – egal welcher Generation – denkt bei einem dieser Lieder sofort an den Urlaub am Meer."
    Antonio Maraldi, Filmspezialist und Kurator mehrerer Ausstellungen über das Thema "Reisen in italienischen Filmen". Auch dank "Sapore di mare", in den 80er Jahren gedreht, sind solche Lieder tief im Bewusstsein aller Italiener verankert und evozieren das nostalgische Bild von den "vacanze al mare", den Ferien am Meer.
    Maraldi: "Mädchen und Jungs sitzen am Meer. Bewegt von den starken Gefühlen der ersten Liebe. Das ist 'Sapore di Mare'. Das bedeuten diese Lieder."
    Ob Lieder der Sechziger oder der Siebziger Jahre – wir sangen, weil wir froh waren! Und was fühlen wir heute, wenn wir an diese unbeschwerte Zeit zurückdenken?
    Musik - Ornella Vanoni: "L´appuntamento"
    Carlo: "Vielleicht, weil die Jugend immer wunderschön ist oder weil früher tatsächlich alles viel einfacher und deswegen menschlicher war, vermisse ich diese Zeit sehr. Die Autobahn war noch nicht durchgängig. Und wenn man in Italien reiste, musste man durch viele Dörfer und Städte fahren. Und jedesmal die Hauptstraße des jeweiligen Ortes durchqueren. Man kam mitten in den Alltag einer Gemeinde. Heute reisen wir auf der Autobahn und sehen nur andere Reisende in einer Raststätte. Eine Kaffeepause bedeutete damals, einen anderen Dialekt zu hören, das Leben der Menschen zu sehen, die dort wohnten und arbeiteten. Etwas zu essen, das es nur dort gab. Das Zusammensein hatte eine stärkere Bedeutung. Man konnte den Ort, man konnte Italien wirklich erleben. Es war eine andere Welt."
    Licia: "Wenn ich darüber nachdenke, empfinde ich nur Freude! Ach, die schönen Steine, die wir am Strand aussuchten, um sie mit nachhause zu bringen. Am Nachmittag haben wir diese Steine je nach Form bemalt, vor dem Abendessen malten wir immer! Ich freue mich, weil ich etwas Schönes habe, woran ich mich erinnern kann!"
    Musik - Joao Gilberto: "Estate"
    Ein Spaziergang am Meer ... ein Stück "pizza al pomodoro" essen, wenn wir hungrig und nass vom Strand kamen ... die kleine Flasche "gazzosa" mit meiner Schwester Chiara und meinem Bruder Diego teilen ...und unsere Spiele an einem regnerischen Tag. Vielleicht deswegen, weil sie verloren gegangen sind, lieben wir diese vergangenen Momente, diese vergangene Zeit. Und sind glücklich, wenn etwas Unerwartetes uns an sie zurückdenken lässt.