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Italiener entwickeln Prognosecluster
Verbesserte Erdbebenvorhersage

Am 6. April 2009 starben im italienischen l'Aquila 308 Menschen bei einem Beben der Stärke 5,8. Das hatte ein juristisches Nachspiel. Begründung: Einige Wissenschaftler hätten das Erdbebenrisiko unzureichend an die Öffentlichkeit kommuniziert. Jetzt gibt es ein neues Prognosemodell für Erdbeben.

Von Dagmar Röhrlich | 14.09.2017
    Ein eingestürztes Haus nach dem Erdbeben in l´Aquila, Italien, 2009.
    Ein eingestürztes Haus nach dem Erdbeben im italienischen l´Aquila im Jahr 2009. (picture-alliance / epa/Ansa Lattanzio)
    Die Serie setzte am 24. August 2016 ein: Ein Beben der Stärke 6,2 erschütterte Mittelitalien. Im Laufe des Septembers bebte es dort immer wieder stark. 298 Menschen starben im Verlauf dieser Serie in ihren zusammengebrochenen Häusern. Am 30. Oktober legte schließlich ein Erdstoß der Magnitude 6,5 Norcia in Schutt. Nur weil die Menschen schon vorher geflohen waren, kam niemand zu Schaden.
    "Ein paar Tage vor diesem Erdbeben von Norcia rief mich meine Nichte an. Ihr Freund hatte sie übers Wochenende dorthin eingeladen und sie wollte wissen, ob es sicher sei. Ich sagte: Auf keinen Fall! Unseren Berechnungen zufolge lag das Risiko eines schweren Bebens bei ein, zwei Prozent. Dann hat es an dem Sonntag tatsächlich gebebt und sie verkündet seitdem stolz: Das hat mein Onkel vorhergesagt. Ich habe es nicht vorhergesagt in dem Sinn, dass es am soundsovielten um soundsoviel Uhr bebt. Doch unsere Berechnung zur Beben-Wahrscheinlichkeit hat ihr persönliches Risiko verringert."
    "Erdbeben-Wahrscheinlichkeit für die nächsten Tage"
    So erzählt Warner Marzocchi vom Nationalen Institut für Geophysik und Vulkanologie in Rom. Es geht um ein Prognosemodell, das derzeit in der Pilotphase ist: Es berechnet für die nächsten Tage die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens:
    "Wir setzen für unsere Vorhersagen derzeit drei unterschiedliche Modelle parallel ein. Sie beruhen alle auf der Idee, dass Erdbeben dazu "neigen", zeitlich und räumlich Cluster zu bilden. Das heißt, es ist wahrscheinlich, dass auf ein Erdbeben jetzt in räumlicher und zeitlicher Nähe ein weiteres folgt. Und je stärker dieses Beben ist, desto höher die Zahl von ihm ausgelösten Beben. Für unsere Vorhersage kombinieren wir die Ergebnisse der drei Modelle. Es ist wie bei der Wetterkarte: Wir sagen, dass wir in der betrachteten Region für die kommende Woche eine Zahl X von Erdbeben oberhalb einer bestimmten Magnitude erwarten."
    "Wahrscheinlichkeit von Magnitude-5 durchaus bei 50 Prozent"
    Die Berechnungen laufen automatisch, werden mit jedem Beben aktualisiert. Während einer Bebenserie kann die Wahrscheinlichkeit eines Magnitude-5-Ereignisses durchaus 50 Prozent erreichen. Bei den Magnitude 6-Beben liegt sie jedoch selten über fünf Prozent, bleibt meistens bei einem:
    "Das heißt: Wenn wir 100 Mal zu diesem Ergebnis kommen, gibt es tatsächlich nur ein Schadenbeben größer 6. Das mag gering erscheinen, doch wenn ich sage, dass ein Flugzeug mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Prozent abstürzen wird, steigt niemand ein. Auch wenn wir dem Eintreffen eines Ereignissen mit großen Konsequenzen nur eine geringe Wahrscheinlichkeit beimessen können, mag das hilfreich sein."
    "Gute Beschreibung der räumlichen und zeitlichen Entwicklung"
    So haben 1997 schon wenige Stunden nach einem schweren Beben Gutachter die Basilika von Assisi betreten, um die Schäden zu prüfen. In diesem Moment bebte es erneut, und alle starben. Auch für Rettungskräfte sind solche Informationen wichtig. Allerdings müssen diese wissenschaftlichen Informationen aufbereitet werden: Denn die "Empfänger", also etwa Planer beim Katastrophenschutz oder Politiker, müssen die Bedeutung von Wahrscheinlichkeiten verstehen und mit ihnen umgehen lernen. Das läuft gerade in Zusammenarbeit mit Sozialwissenschaftlern und Kommunikationsexperten.
    "Der Vorteil des Systems, das meine Kollegen entwickelt haben, liegt meines Erachtens darin, dass sie damit die räumliche und zeitliche Entwicklung einer seismischen Serie gut beschreiben können. Ihr Ansatz, mit dem sie die Dynamik dessen, was gerade abläuft erfassen wollen, ist ausgefeilt. Die Grenzen des Modells liegen darin, dass nur die einfach zu messenden Faktoren berücksichtigt werden, also die Beben selbst, und nicht andere wie die lokale Verteilung des tektonischen Stresses beispielsweise, die dabei helfen könnten, die Ergebnisse weiter einzugrenzen. Aber es ist meiner Meinung nach ein sehr guter Anfang, und in das Modell können künftig so viele andere Faktoren wie möglich eingearbeitet werden."
    "Bebenserie vom August 2016 immer noch nicht zu Ende"
    So urteilt Massimiliano Pittori vom Geoforschungszentrum GFZ in Potsdam. Die Bebenserie von Mittelitalien, die am 24. August 2016 begann, ist übrigens immer noch nicht zu Ende. Doch seit Januar nehme die Erdbebentätigkeit ab, erklärt Warner Marzocchi. Die wöchentliche Wahrscheinlichkeit eines starken Bebens sinkt dort ständig. Doch sobald wieder ein mittelstarkes Erdbeben auftritt, könnten sich die Wahrscheinlichkeiten sehr schnell verändern.