Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Italienische Nobelpreisträgerin
Eine archaische Wucht

In den Romanen von Grazia Deledda wirkt Sardinien mit seinen ursprünglichen Landschaften und jahrhundertealte Regeln zeitlos. 1926 wurde Deledda als zweite Frau mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. "Schilf im Wind" erscheint nun in einer Neuausgabe.

Von Maike Albath | 04.04.2021
Die italienische Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda (1871–1936) und ihr Roman "Schilf im Wind" (aktualisiertes Buchcover)
Die italienische Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda (1871–1936) und ihr Roman "Schilf im Wind" (Foto: IMAGO / Leemage, Buchcover: Manesse Verlag)
Es beginnt ruhig und beschaulich an einem Abend im Frühling. Das gleißende Licht ist gewichen, ein zäher, kleiner Mann lässt seinen Blick über weite Terrassenfelder schweifen. Seit Jahrzehnten pflegt der Knecht Efix diese windumtosten Hänge mit ihren Pfirsich- und Mandelbäumen, den Feigenkakteen und den schimmernden Schilfsäumen. Er kennt jede Krume, ahnt jeden Wetterwechsel, jeden Tierlaut weiß er zu deuten. Es wirkt, als sei er selbst Teil dieser Landschaft; verwittert, verschlossen, beständig, mit den Elementen verbunden.
Schon die ersten Seiten von Grazia Deleddas Roman "Schilf im Wind", im Original 1913 erschienen, vermitteln das Außerordentliche dieser Gegend. Der Schauplatz ist die Insel Sardinien, ein Dorf namens Galte, hinter dem sich der tatsächlich existierende Ort Galtellì verbirgt. Efix lauscht den Geräuschen der Nacht.
"Wo sich der Kobold einen Weg bahnte, funkelten Zweige und Steine im Mondlicht auf. Zu den bösen Geistern gesellten sich die Geister der ungetauften Kinder, weiße Gespenster, die durch die Luft flogen und sich in silberne Wölkchen hinter dem Mond verwandelten. Die Zwerge und die Janas, kleine Feen, die tagsüber in ihren Felshäusern an goldenen Webstühlen goldene Stoffe wirkten, tanzten im Schatten der weitläufigen Macchia aus Steinlinden, während die Riesen mit ihren gewaltigen grünen Rossen, die nur sie allein zu besteigen verstehen, zwischen den Bergzacken im Schein des Mondes auftauchten."

Magie und Religiosität

Während anderswo in Europa längst die Moderne Einzug erhielt, an den Rändern Italiens jemand wie Italo Svevo den Kräften des Unbewussten nachspürte und die Futuristen im Norden des Landes ihre verbalen Messer wetzten, erzählt Grazia Deledda eine Geschichte, die dem 19. Jahrhundert verhaftet zu sein scheint. Das Weltempfinden ihrer Figuren ist von Magie und einer starken Religiosität mit paganen Elementen durchdrungen, übersinnliche Phänomene sind Teil der Wirklichkeit, es gelten althergebrachte Regeln und Gesetze, und wer sich widersetzt, muss dafür büßen.
Efix steht ihm Dienst dreier adliger Schwestern, die Ester, Ruth und Noemi heißen und ihn längst nicht mehr bezahlen können. Schon seit dreißig Jahren bewirtschaftet er das Gut der Familie. Als am Abend ein Junge aus dem Dorf eintrifft und ihm ausrichtet, seine Herrinnen hätten einen Brief ihres Neffen erhalten, erinnert er sich an das Unglück vergangener Zeiten.
"Donna Maria Christina ist tot; die blassen Gesichter ihrer Töchter verlieren ein wenig von ihrer Heiterkeit, und jene Flamme auf dem Grund ihrer Augen wird größer; sie wächst in dem Maße, wie Don Zame nach dem Tode seiner Frau immer mehr das anmaßende Gebaren seiner Ahnen, der Barone, an den Tag legt und, wie es bei diesen üblich war, die vier Mädchen, in Erwartung würdiger Ehegatten, im Hause wie Sklavinnen gefangen hält. Und wie Sklavinnen mussten sie arbeiten, Brot backen, weben, nähen, kochen und ihre Sache in Ordnung halten; vor allem durften sie nie den Blick in Gegenwart der Männer heben, noch war es ihnen gestattet, auch nur an einen Mann zu denken, der nicht zu ihrem Bräutigam auserkoren war. Doch die Jahre vergingen, und der Bräutigam kam nicht."

Kobold auf dem Gewissen

Nur eine der Schwestern wagte es, gegen das väterliche Regiment aufzubegehren: Mit Efixs Hilfe, der ganz unstandesgemäß in das Mädchen verliebt war, floh Lia aufs Festland, heiratete und bekam einen Sohn. Don Zame fand man eines Morgens erschlagen an einer Brücke auf. Ein Kobold habe ihn auf dem Gewissen, raunte man in Galte.
Der Reichtum der Familie ging verloren, Donna Ester, Donna Ruth und Donna Noemi blieben allein zurück. Auf Lias Briefe antworteten sie nie, und als die abtrünnige Schwester starb, erschien ihnen das wie eine gerechte Strafe. Nun hat sich ausgerechnet ihr erwachsener Neffe Giacinto angekündigt – ein herausragendes Ereignis inmitten eines Alltags aus Kirchgängen, Näharbeiten und Kochen. Efix hofft, dass Bewegung in die Angelegenheiten seiner Herrinnen kommt.

Eine verblüffende Erscheinung

So archaisch diese Konstellation von Schuld, Strafe und Sühne anmutet, so realistisch war sie in Deleddas eigener Jugend und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die sardische Schriftstellerin ist eine der verblüffendsten Erscheinungen der italienischen Literaturgeschichte. Ihr Werdegang widerspricht den gängigen Mustern weiblicher Biographien in Süditalien.
Sie wurde 1871 als viertes von sieben Geschwistern einer wohlhabenden Familie in Nuoro in der traditionsbewussten Barbagia geboren. Der Vater war Jurist, lebte von den Einkünften seiner Landgüter und pflegte eine Vorliebe für Volkskultur. Die Mutter achtete auf eine strenge Erziehung nach sardischer Sitte: Mädchen und Frauen gehörten ins Haus, ihr Ehrgeiz durfte sich höchstens auf eine Ehe und Kinder erstrecken.
Grazia besuchte vier Jahre lang die Grundschule, wurde dann noch eine Weile privat unterrichtet und las sich kreuz und quer durch die Weltliteratur: von Victor Hugo, Alexandre Dumas, Honoré de Balzac und Gustave Flaubert über Antonio Fogazzaro und Gabriele D’Annunzio bis zu Fjodor Dostojewski, Nikolai Gogol und Lew Tolstoi. Sie fasste den Plan, Schriftstellerin zu werden.

Damals ein Skandal

Mit siebzehn Jahren veröffentlichte die Autodidaktin ihre erste Erzählung in einer Modezeitschrift. Bei einem Mailänder Verleger erschien 1890 ihr erstes Buch. In Nuoro sorgten ihre Erzählungen für Unmut – dass eine junge Frau so offenherzig die Verhältnisse schilderte, von Armut, Elend, den patriarchalen Strukturen und den für die Barbagia typischen Familienzwisten erzählte, galt als skandalös. Dass Deledda immer auch die stärkenden Seiten des Kollektivs beschrieb, übersah man.
"‘Los, los!‘ Ein magisches Band schien die Frauen zusammenzuhalten und unter ihnen ein Gefühl glühender, wenn auch gebändigter Erregung zu nähren. Die Reihe der Tanzenden beschrieb einen Bogen und bildete allmählich einen Kreis. Hin und wieder trat eine Frau hinzu, löste zwei ineinander verschlungene Hände, flocht die eigenen dazwischen und erweiterte so die schwarze und rote Girlande, hinter der ein Saum aus Schatten wirbelte. Die Füße hoben sich immer geschwinder, schlugen aneinander und stampften auf die Erde, als wollten sie sie aus ihrer Reglosigkeit erwecken. ‚Weiter, weiter!‘ Auch das Akkordeon spielte vergnügter und schwungvoller auf."
1896 veröffentlichte der einflussreiche sizilianische Schriftsteller Luigi Capuana, Vertreter des "Verismus", der italienischen Spielart des Naturalismus, eine lobende Rezension eines Romans, was einem Ritterschlag gleichkam: Grazia Deleddas literarische Karriere gewann an Fahrt.

Anklänge an die Romantik

In Cagliari begegnete sie dem Finanzbeamten Palmiro Madesani vom "Kontinent", wie Italien hieß, heiratete ihn und zog 1900 nach Rom um. Nun wurde ihre Insel endgültig zum Vorstellungsraum. Obwohl Deledda die ungleiche Verteilung der Besitztümer beleuchtet und das Problem der Malaria thematisiert, ist "Schilf im Wind" weniger von einem positivistischen, aufklärerischen Verismus geprägt als von einem kraftvollen magischen Realismus.
Die lyrischen Naturschilderungen weisen Anklänge an die Romantik auf. Ihr Stil ist von den mündlichen Erzählformen der Insel geprägt, was sich im Original auch auf die Satzstellung in der wörtlichen Rede niederschlägt. Ähnlich wie die Veristen wählt sie den Blickwinkel des Knechts und nicht der Herrinnen, aber anders als Verga und Capuana erhebt sich Deledda nie paternalistisch über ihre Figuren, sondern schildert anteilnehmend ihre Nöte.
Efix missachtete die Klassenschranken, weil er Gefühle für die flüchtige Lia hegte, die ihn wiederum instrumentalisierte – mit fatalen Folgen. Lias Sohn Giacinto stellt allein durch seine Existenz die jahrhundertealten Gepflogenheiten in Frage. Er trifft just am Abend eines Kirchenfestes ein.
"Freudenjauchzer hallten durch die Luft, fast wild, so als verlangten sie, die Melodie des Tanzes solle noch lebhaftere und sinnlichere Töne anschlagen. ‚Uhi! Ahiahi!‘ Der Schrei schwoll an wie das Wiehern eines Pferdes. Und die Beine der Frauen, die sich unter den dunklen Rücken abzeichneten, und die kleinen Füße, die unter den wogenden Säumen hervorschauten, bewegten sich, durch die Freude am Tanz befeuert, immer schneller. "Don Giacinto! Kommen Sie!" ‚Los, los!‘ ‚So kommen Sie doch! Kommen Sie!‘ Alle Frauen schauten hinüber und lächelten ihm zu. Die Zähne blitzten zwischen ihren Lippen."

Fatale Familienzwiste

Als der blonde Mann vom Kontinent in den Kreis tritt, erobert er im Handumdrehen gleich mehrere junge Frauen, und einen Moment wirkt die Sinnlichkeit des Tanzes wie der Ausdruck einer zukunftsgerichteten Vitalität. Aber nach ein paar Wochen entpuppt sich Giacinto als durchschnittlicher Nichtsnutz, der sich auf dem Festland einen Betrug geleistet hatte und nur aus Großmut ungeschoren davonkam. Deledda modelliert die modernere Welt jenseits der Insel also nicht nur als einen utopischen Ort, wo Freiheit und Selbstbestimmung herrschen.
Giacinto ließ sich korrumpieren. Er gelobt Besserung, verschuldet sich aber dann bei der Wucherin Kallina und unterschreibt Wechsel im Namen von Donna Ester. Die Tanten sind empört und verstoßen ihn. Zu allem Überfluss hat er sich mit einem mittellosen Mädchen, das er ehrlich liebt, allzu große Vertraulichkeiten geleistet. Efix rät Giacinto, nach Nuoro zu gehen und sich eine Stelle zu suchen.
Deledda schürzt routiniert etliche Handlungsknoten, bahnt Verwicklungen an, lockert und rafft die Geschehnisse. Auch Efix trägt eine Schuld in sich, die niemand kennt. Ein Leser von heute mag sich angesichts der hochtönenden Dramatik der inneren Konflikte befremdet fühlen. Aber noch bis vor wenigen Jahrzehnten verliefen Familienzwiste nach genau diesen Mustern, die viel mit Ehre, Pflicht, und einem soghaften Fatalismus zu tun hatten.

Die Buße nützt nichts

Das Motiv des unsagbaren Geheimnisses ist ebenfalls ein typischer Bestandteil der Romane Deleddas. Efix geht schließlich als Bettler auf Wanderschaft und zieht von Kirche zu Kirche.
"Und er wanderte und wanderte in einer Reihe mit den anderen Bettlern immer weiter hinauf durch das grüne Tal bis Mamoiada auf Fonni zu. Und über den steilen Saumpfaden erhoben sich vor dem bewölkten Abendhimmel die Gipfel des Gennargentu mit ihren wundersamen Felsformationen, die wie Mauern, Burgen, riesenhafte Grabstelen, silberne Städte und nebelverhangene Wälder aussahen. Doch sein Leib erschien ihm wie ein leerer Sack, geschüttelt vom Wind, zerrissen, schmutzig, zu nichts mehr gut, als zu den Lumpen geworfen zu werden."
Die Buße nützt also nichts, und das ist das Originelle an Grazia Deledda. Oberflächlich mag sie ihre Figuren als gottesfürchtig darstellen. Tatsächlich bietet Gott keine Erlösung – Efix ist nichts als eine leere Hülse. Es geht der Autorin weder um christliche Moralvorstellungen, noch um ein metaphysisches Fatum. Der Mensch ist selbst verantwortlich. Er mag sich reumütig anpassen; zentral ist die Erfahrung der Isolation und Einsamkeit, und darin steckt dann doch etwas Modernes. Individualismus, wie er auf dem Festland herrscht, bietet keine Lösung – Deleddas Figuren kehren ernüchtert ins Kollektiv zurück.

Aufsteiger als krude Materialisten

Die Autorin beschreibt eine Gesellschaft, die sich in Auflösung befindet. Die alte Ordnung gilt nicht mehr, eine neue ist nicht Sicht. Nur die Natur scheint Beständigkeit zu bieten. Die feudalistisch-agrarische Tradition ist ausgehöhlt, sie bietet weder den Armen Schutz, noch nimmt sie die Wohlhabenden in Verantwortung. Die neuen Aufsteiger sind krude Materialisten. Intellektuelle mit einer politischen Vision kommen anders als in russischen Romanen bei Grazia Deledda nicht vor. Ihre Helden stecken in einem Limbus, gelähmt und passiv. Als Efix seine Wanderschaft beendet hat, wendet sich Donna Ester an ihn.
"‘Aber sag mir doch, Efix, sag mir‘, fuhr Donna Ester betrübt fort, ‚ist es nicht ein furchtbares Schicksal, das uns verfolgt? Da ist Giacinto, der uns ruiniert und diese Bettlerin heiratet. Und da ist Noemi, die sich unterdessen ihrem Glück verschließt. Warum ist das so, Efix, sag du es mir, Efix, schließlich hast du doch die Welt gesehen! Warum bricht uns das Schicksal, wie der Wind das Schilf bricht?‘ ‚Ja‘, sagte Efix, wir sind tatsächlich das Schilf im Wind, liebe Donna Ester. Genau deshalb! Wir sind das Schilf, und das Schicksal ist der Wind.‘ ‚Ja gut, aber warum ausgerechnet dieses Schicksal?‘ ‚Und dieser Wind, warum dieser Wind? Gott allein weiß es.‘"

Kein simpler Exotismus

Hier ist er wieder, der unablässige Wind, der durch beinahe jeden Roman und unzählige Novellen von Grazia Deledda weht und für das unstillbare Begehren steht. Immer wieder geraten ihre Helden in unauflösbare Widersprüche und machen sich schuldig – sie lieben die Falschen zum falschen Zeitpunkt und wenn sie es wagen, aufzubegehren, tun sie es zu spät. Die gesamte Lebenswelt ist über Tabuisierungen strukturiert, die bestimmend sind. Mitunter blitzen regelrechte Archetypen auf: Vatermord, Inzest, der Pilgerzug als Buße.
Die schön gestaltete Neuausgabe von "Schilf im Wind" im Manesse Verlag ist mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat von Jochen Reichel ausgestattet, der mit zahlreichen historischen und kulturgeschichtlichen Details aufwartet. Auch die gründliche Durchsicht der in die Jahre gekommenen Übersetzung von Bruno Goetz, ebenfalls von Reichel bewerkstelligt, war dringend notwendig. Etliche Ungenauigkeiten wurden behoben, Ausdrucksweisen angepasst, das Relief der Tempusformen geschärft.
Bedauerlich ist nur, dass man in diesem Zuge nicht die charakteristische sardische Anrede "Ziu" und "Zia" in der Originalsprache stehen ließ und stattdessen das biedere "Onkel" und "Tante" vorzog – dadurch geht etwas Typisches verloren, was den guten Gesamteindruck der Edition aber nicht schmälert. Das etwas altväterliche Nachwort von Federico Hindermann von 1951 wurde übernommen – es ist immer noch lesenswert, aber hier hätte man sich ein aktuelleres gewünscht, da mittlerweile die Forschung auf einem anderen Stand ist.
Dass Deledda mit ihren Romanen auf dem Festland exorbitante Erfolge feierte und enorme Auflagenhöhen erreichte, hing mit der Neugierde auf die entlegeneren Teile Italiens zusammen. Sardinien war marktgängig, und Grazia Deledda stilisierte sich bewusst als sardische Schriftstellerin. Dennoch bediente sie keinen simplen Exotismus, sondern entwarf aus der Distanz heraus ein vielschichtiges Bild. Am Ende von "Schilf im Wind" schließt sich ein Kreis.
"Efix flocht eine Binsenmatte und betete. Zuweilen ließ ihn ein plötzlicher Schmerz in der Seite senkreicht auffahren, als würde ihm jemand eine Eisenstange in die Nieren stoßen. Da krümmte er sich zusammen, bleich und zitternd, so wie das Rohr im Wind. Nach einem solchen Krampf wurde er immer von einer großen Schwäche übermannt, und er fühlte zugleich eine süße Schwere, weil er hoffte, bald zu sterben. Sein Tag war zu Ende."

Epos des Verzichts

Dem Menschen bleibt also nichts als Entsagung, er muss sich biegen wie ein Schilfrohr und sein Schicksal annehmen? In der italienischen Literaturgeschichte wurden Deleddas Romane lange als Epen des Verzichts wahrgenommen – aber sie sind mehr als das. So reumütig ihre Helden auch sein mögen, die Autorin idealisiert die archaische bäuerliche Welt nicht. Schließlich war sie selbst eine emanzipierte Frau. Sie verstand ihren Beruf als Mission, fühlte sich ihrem Publikum verpflichtet und bestritt den Lebensunterhalt ihrer Familie.
Ihr Ehemann Palmiro Madesani gab nach der Hochzeit seine hochdotierte Beamtenstelle auf und widmete sich der Karriere seiner Frau: Er lernte Spanisch, Deutsch und Englisch, um die Korrespondenz mit ihren ausländischen Verlagen abzuwickeln, kümmerte sich um Lizenzen, diskutierte mit ihr mögliche Romanstoffe. Ihr ähnlich erfolgreicher, jedoch missgünstiger und in einer vertrackten Ehehölle gefangene Kollege Luigi Pirandello titulierte den treuen Mann der Sardin als "Grazio Deleddo" und machte sich in einem Roman über das produktive Paar lustig. Noch neidischer wurde er, als Grazia Deledda 1926 der Nobelpreis zuerkannt wurde.

Kein biegsames Schilfrohr

In der Begründung des Komitees ist von der "homerischen Schlichtheit" die Rede und davon, dass sie ihre Insel plastisch vermittle. Dass für sie das Regionale und Partikulare im Zentrum ihres Schreibens stand, wurde vom Regime ausgeschlachtet, weil es sich mit der faschistischen Ideologie des Strapaese, also der nationalistischen Feier des Autochthonen vereinbaren ließ, auch wenn Deledda auf etwas ganz anderes zielte. Sie stand Mussolini distanziert gegenüber; bei der Audienz zum Nobelpreis lehnte sie sämtliche Privilegien ab, bat nur um die Begnadigung eines Bekannten aus Nuoro.
1930 verfasste sie im Auftrag des Bildungsministeriums ein Grundschullesebuch. Aber ihre Haltung war apolitisch; feurige Bekenntnisse zum Faschismus, wie man sie von Pirandello kannte, gab es von ihr nicht. Und während die Propaganda Frauen als Mütter an den Herd verbannte, schrieb sie unablässig Romane. Anders als ihre Heldinnen war sie kein biegsames Schilfrohr im Wind, sondern hatte sich sämtlichen Zwängen widersetzt und Sardinien verlassen. Der Kern von Grazia Deleddas schöpferischer Arbeit blieb ihre wilde, unbezwingbare Insel.
Grazia Deledda: "Schilf im Wind"
aus dem Italienischen von Bruno Goetz
überarbeitet und mit Anmerkungen versehen von Jochen Reichel
mit einem Nachwort von Federico Hindermann
Manesse Verlag, München. 438 Seiten, 25 Euro.