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Italiens Staatspräsident
Napolitano als Zeuge im Prozess gegen den Staat

In Palermo läuft derzeit ein Prozess, der ganz Italien in Atem hält. Es geht um die Frage, ob Vertreter des italienischen Staates in den Jahren 1992 und 1993 aus Angst vor Mordanschlägen auf Forderungen von Mafia-Bossen eingegangen sind. Gestern wurde sogar Staatspräsident Napolitano als Zeuge befragt.

Von Kirstin Hausen | 29.10.2014
    Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano
    Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano (AFP / Tiziana Fabi)
    Die Befragung des italienischen Staatspräsidenten dauerte drei Stunden und fand in einem Saal des Quirinalspalastes in Rom statt, unter Ausschluss der Medien und der Öffentlichkeit. Trotzdem waren fast 40 Personen zugegen: die Richter und Staatsanwälte aus Palermo und die Verteidiger der Angeklagten im Prozess zur "Trattativa Stato Mafia", also zu mutmaßlichen Verhandlungen zwischen Staat und Mafia. Unter Anklage steht unter anderem Nicola Mancino, der von 1992 bis 1994 Innenminister war und damit auch zuständig für die italienischen Gefängnisse. Ihm soll ein Forderungskatalog der Mafia vorgelegen haben, als Angebot an den Staat. Nach Angaben eines Mafia-Kronzeugen ging es dabei unter anderem um Hafterleichterungen. Fakt ist, dass während der Amtszeit von Mancino mehr als 300 Mafiosi aus der Einzelhaft entlassen wurden.
    Was der heutige Staatspräsident Giorgio Napolitano damit zu tun hat? Nicola Mancino hatte 2012, als der Prozess zur "Trattativa" eröffnet wurde, Napolitano bitten lassen, Einfluss auf das Richterkolleg in Palermo zu nehmen. Und Napolitano hatte gerichtlich durchgesetzt, dass abgehörte Telefongespräche zwischen ihm und Mancino zu vernichten waren. Damit wuchs der Verdacht, in diesen Gesprächen könne es um die "Trattativa" gegangen sein. Bei seiner Befragung gestern hat Giorgio Napolitano erklärt, nichts von Absprachen zwischen Vertretern des Staates und Vertretern der Mafia gewusst zu haben: "Diese angedeuteten Vorwürfe und Verdächtigungen, denen ich als Staatspräsident ausgesetzt bin, haben keine Substanz."
    Zugeständnisse an die Mafia?
    Auf der Anklagebank sitzt auch der Mafia Boss Totò Riina. Sein Verteidiger hatte sich von der Befragung Napolitanos eine Entlastung seines Klienten erhofft. Riina, bis vor 20 Jahren der Boss aller Bosse, war unter anderem für die Ermordung der Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Sein Anwalt will beweisen, dass Vertreter des Staates diese Morde mitzuverantworten haben. Die Staatsanwälte in Palermo haben im Grunde dasselbe Ziel. Sie wollen beweisen, dass hohe Politiker in den Jahren 1992/93 heimlich mit der Mafia verhandelt haben und den Bossen Zugeständnisse machten, aus Angst, ansonsten ermordet zu werden. Dem Gericht in Palermo liegen Unterlagen des italienischen Geheimdienstes vor, nach denen auch der damalige Präsident der Abgeordnetenkammer Giorgio Napolitano ins Visier der Mafia geraten war. Hat Napolitano gewusst, dass er in Gefahr schwebte? Ja, das habe er, hat er gestern geantwortet. Und es habe ihn in keiner Weise in seinem Handeln beeinflusst oder auch nur beunruhigt. Salvatore Borsellino, der Bruder von Paolo Borsellino, einem der ermordeten Richter, glaubt das nicht. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen den Staatspräsidenten: "Napolitano war Bürge des Paktes zwischen Mafia und Staat."
    Mafia-Kronzeugen bezeichnen Silvio Berlusconi als den damaligen Verbindungsmann in der Politik. 1994 wählen die Italiener den Medienmogul zum Ministerpräsidenten. Seine Regierung macht der Mafia verschiedene Geschenke. Das Zeugenschutzprogramm wird heruntergefahren, die Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften im Ausland erschwert, Hochsicherheitsgefängnisse geschlossen.
    Aktentasche ist bis heute verschwunden
    Richter Borsellino hätte solche Zugeständnisse an die Mafia niemals hingenommen. Er stand dem Pakt also im Wege. Davon geht auch Anwältin Ilaria Ramoni vom Anti-Mafia-Netzwerk LIBERA aus, das im Prozess als Nebenklägerin auftritt:
    "Ich glaube, er hätte nicht einmal seinen Mitarbeitern davon erzählt, wenn er Beweise für diesen Pakt gehabt hätte. Denn das hätte ihr Leben in Gefahr gebracht. So wie es seines in Gefahr brachte."
    Als Paolo Borsellino ermordet wurde, hatte er eine Aktentasche voller Dokumente bei sich. Die Tasche wurde von einem Geheimdienstmitarbeiter vom Tatort entfernt. Sie ist bis heute verschollen. Ilaria Ramoni:
    "Wir wollen wissen, was sich in dieser Aktentasche befand, welche Geheimnisse allein Borsellino kannte. Wenn die Wahrheit selbst heute, 20 Jahre später, nicht ans Licht kommen darf, und Politiker, die heute noch im Amt sind, Nachforschungen der Staatsanwaltschaft verhindern wollen statt zu unterstützen, dann kann es sich nur um Geheimnisse handeln, die die Stabilität unseres Landes gefährden würden."
    Staatspräsident Giorgio Napolitano scheint nicht zur Aufklärung dieses dunklen Kapitels in der italienischen Geschichte beitragen zu wollen. Ob seine Aussage für den Prozess in Palermo Relevanz hat, wurde von den Richtern aus Palermo weder bestätigt noch verneint.