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J.M. Coetzee: "Ein Haus in Spanien"
Heimgekehrte Schiffbrüchige

Sie kehren als Reisende zurück und sind dennoch schiffbrüchig, denn zu Hause erwartet sie nicht automatisch ein wohliges Heim. Dem Südafrikaner J.M. Coetzee gelingt es, drei von Grund auf verschiedene Protagonisten miteinander zu verbinden; durch eine Sprache, die sich auf die kleinen Dinge des Lebens konzentriert.

Von Marie-Luise Knott | 29.06.2017
    Porträt-Aufnahme von John-Maxwell Coetzee.
    Nobelpreisträger J.M. Coetzee spielt als Schriftsteller virtuos mit leisen, poetischen Mitteln. (imago / Leemage)
    Nimmt man das dünne Buch in die Hand, ist man zunächst enttäuscht, ja verstört. 60 Seiten. Wie aufgeblasen - denkt man. Nur weil der Autor ein Nobelpreisträger ist? Doch dann beginnt man zu lesen und stellt fest: Jede Zeile in diesem Buch hat es in sich. Jedes Wort ist präzise gesetzt, die Sprache mit allen Wassern gewaschen und dabei so hoch konzentriert, karg, würzig und fruchtbar wie die Karoo, jene Landschaft, der Coetzee sich in vielen seiner Werke verschrieben hat. Bis ins Mark sei sie von der Schönheit dieser gottverlassenen Gegend verdorben, sagt einmal eine seiner Hauptfiguren, und meint jenes wüstenartige Hochplateau im Süden Südafrikas, wo Coetzees Onkel einst eine Farm mit dem märchenhaften Namen Voëlfontein besessen haben muss. Zu deutsch: Vogelbrunnen.
    Hat man erst einmal angefangen zu lesen, möchte man nicht mehr aufhören, denn unmittelbar zieht einen die tastende Sprache in den Bann. Dabei geht es in allen drei Geschichten ziemlich undramatisch zu. In der ersten Erzählung kauft ein älterer Mann ein Haus in Spanien, und noch während er sich über all die Leute mokiert, die immer sagen "Ich habe mich in das Haus verliebt", widerfährt ihm gegen seinen Willen genau dies: Das Haus, das eigentlich als Gelegenheitsdomizil gedacht war, beherrscht nach und nach all sein Tun und Denken. Minutiös beschreibt der Erzähler, wie es ihm zuwächst - samt Moos unter der Dachrinne und verrostetem Türriegel. Eine Allegorie auf die Liebe in Zeiten drohender Einsamkeit.
    Reise nach "Nietverloren"
    Während die dritte Erzählung im Buch, die Nobelpreisrede von 2003, keine äußere Handlung besitzt, sondern ein inneres Zwiegespräch darstellt zwischen einem Er und seinem schreibenden Alter-Ego, spielt die zweite, die mittlere Erzählung mit dem Titel "Nietverloren" genau in der eingangs erwähnten Karoo. Wieder ist ein älterer Mann die Hauptfigur. Er fährt mit amerikanischen Freunden durch die weite, schwarze Stein-Landschaft und kehrt dabei in Gedanken immer wieder zurück zu einem Erinnerungsbild aus der Kindheit: zu einem rätselhaften, flachen, von Steinen umgrenzten Erdkreis nahe der Farm seines Onkels.
    Als kleiner Junge glaubte er, dies sei ein Feenkreis, ein Ort also, an dem des nachts Feen im Lichte der Glühwürmchen tanzten. Nach und nach hatte sich ihm die Welt entzaubert, der Feenkreis hatte sich als Dreschplatz entpuppt, und er hatte verstanden, dass es in dieser Ödnis, wo es mittlerweile nurmehr Schafsfarmen gab, einmal eine autarke Landwirtschaft gegeben haben muss, mit Weizen, Enten, Kühen und Beeren. Doch Dürrezeiten, der Straßenbau und der Vormarsch der Monokultur hatten dieser Wirklichkeit lange vor seiner Kindheit ein Ende bereitet. Obwohl er jetzt mit seinen Freunden nach so vielen Jahren wieder durch diese Gegend fährt, will er nicht dorthin zurück: Doch seinen Erinnerungen und dem bitteren Gefühl des Verlustes entgeht er nicht. Passenderweise macht die Gruppe zum Lunch auf einer Nostalgie-Farm halt, die sich "Nietverloren" nennt, und sich als Konserve der guten alten Zeit inszeniert: Schafe, Wolle, Spinnerei - ein Landgut zum Anfassen.
    Die Handlung von "Nietverloren" klingt einfach; der Humor ist trocken und die Sprache so doppelbödig wie der Titel. Auf der Farm würden heute statt Weizen Menschen geerntet, liest man, Touristen, Armut und Ursprünglichkeit kommen als künstliche Frugalität daher und das abschließende Urteil ist eindeutig: "Nietverloren" ist nichts als ein Themenpark, ein Mittagsstopp für ignorante Globaltrottel sozusagen.
    Feinheiten des Erzählten
    In allen drei Geschichten beharrt Coetzee auf der Kraft des Erzählens selbst: Indem wir die kleinen Dinge und die kleinen Verrichtungen erzählen, erinnern wir uns an sie; und fortan wird das Erinnerte auch von uns erzählen - woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen. Subversiv setzt die Sprache gegen das Tempo der Zeit das Detail in sein Recht und schafft den nötigen Raum, in dem viele Fragen wiederhallen können. Von Bertolt Brecht stammt der Satz, der Kapitalismus sei dabei, alle Aspekte des Lebens in eine Ware umzuschmelzen. Coetzee schreibt dagegen an. Satz für Satz.
    Im Vorwort heißt es, alle drei Protagonisten seien "heimgekehrte Schiffbrüchige". Doch bei der Heimkehr erwartet die Seereisenden – ähnlich wie einst Odysseus – nichts Heimeliges. So weit, so erwartet. Der wichtigste Handlungsträger im Buch aber ist die Sprache: in ihr finden die Dramen unseres Lebens ihren Ort. Nicht alle Feinheiten kann man auf Deutsch nachbilden. "Where did they get wheat to beat?", reimt das Englische an einer Stelle. "Woher bekamen sie Weizen zum Schlagen her?"
    Durch solche leisen, poetischen Mittel kann Coetzee viel mitschwingen lassen, vielleicht auch, dass es eines Tages Verhältnisse gibt, in denen nichts und niemand geschlagen wird, und Erinnerungen, die tatsächlich nicht verloren gegeben werden müssen. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.
    J. M. Coetzee: "Ein Haus in Spanien. Drei Geschichten", S. Fischer Verlag, 60 Seiten, 12,20 Euro.